Sie sind leichenblass und vermutlich blind: In Baden-Württemberg haben Forscher bisher unbekannte Höhlenfische gefunden, die in ewiger Dunkelheit leben. Lesen Sie hier die Geschichte der spektakulären Entdeckung.
Zwölf Meter geht es nach unten - am Aachtopf, der als größte Quelle Deutschlands gilt. Hier, etwa 35 Kilometer nordwestlich von Konstanz, sprudeln je nach Jahreszeit bis zu 24.000 Liter Wasser je Sekunde aus der Erde.
Was unter den Fluten der Quelle liegt, hat Menschen seit jeher interessiert. 1886 wagte sich erstmals ein Höhlentaucher in die Tiefe. Dort musste der Mann umkehren. Er war an einer Stelle angekommen, die Taucher seit dieser Zeit "die Düse" nennen.
Dort verengt sich der Fels, der gesamte unterirdische Fluss muss sich durch eine nur sechs Quadratmeter kleine Öffnung pressen. Das sorgt für eine mörderische Strömung, gegen die ein Taucher anschwimmen muss. "Das ist die Schlüsselstelle", sagt der Höhlentaucher Jochen Kreiselmaier. "Entweder man kommt durch - oder eben nicht."
Der Taucher
Kreiselmaier war schon oft in der Aachhöhle unterwegs. Ende August 2015 aber machte er eine spektakuläre Entdeckung, die ihn nun zum Mitautor einer wissenschaftlichen Studie macht. Erstmals haben Forscher einen Höhlenfisch in Europa nachgewiesen, der sein gesamtes Leben im Dunkeln verbringt. Es ist gleichzeitig das weltweit nördlichste bekannte Vorkommen dieser geheimnisvollen Tiere überhaupt.
Die rund zehn Zentimeter langen Fische gehören zur Überfamilie der Schmerlen. Sie sind so blass, dass sogar die Blutgefäße durchschimmern. Auf Licht reagieren die an ewige Dunkelheit gewöhnten Tiere überhaupt nicht. Das berichtet ein Team um die Biologin Jasminca Behrmann-Godel von der Universität Konstanz und den Höhlentaucher Kreiselmaier im Fachmagazin "Current Biology".
Im Hauptberuf arbeitet Kreiselmaier beim Softwareriesen SAP. Doch so oft es geht, setzt er sich in Ludwigshafen ins Auto und fährt 300 Kilometer, um seinem Hobby nachzugehen. Seit 36 Jahren taucht Kreiselmaier, am liebsten in Höhlen. Seit 1997 ist er in der Aachhöhle unterwegs. Knapp 200 seiner insgesamt 1200 Tauchgänge hat er dort absolviert. "Ein Wochenende in der Aachhöhle ist für mich so erholsam wie für andere eine Woche am Strand", sagt er.
Die Höhle
Gut einen halben Kilometer nördlich vom Aachtopf erstreckt sich die Höhle. Es gibt eine Halle mit Tropfsteinresten im Fels und viele, viele wassergefüllte Gänge. Wer ihnen folgen will, braucht eine Ausnahmegenehmigung der Stadt Aach - und eine fundierte Höhlentaucherausbildung, schließlich geht es im Fels auch noch in bis zu 40 Meter Tiefe hinunter.
In der Aachquelle sind Höhlentaucher oft allein unterwegs, in starker Strömung, bei schlechter Sicht, in felsigen, verwinkelten Gängen. "Der Rückweg muss sicher sein", sagt Kreiselmaier. "Nur dann geht es weiter in die Höhle hinein. Wenn man seine Grenzen überschreitet, wird's problematisch."
Drei "L" sind für die Höhlentaucher lebenswichtig: Licht, Luft und Leine. Kreiselmaier taucht mit sechs Flaschen Nitrox-Gasgemisch, hat vier Lampen am Helm und eine weitere direkt am Körper - und orientiert sich an einem am Fels befestigten Führungskabel, das er zusammen mit anderen Tauchern verlegt hat. "Statistisch gesehen passiert mir auf dem Hin- und Rückweg im Auto eher etwas als unter Wasser", sagt er.
Das Wasser stammt größtenteils aus der Donau. Es verschwindet 25 Kilometer weiter nördlich im Boden und fließt unterirdisch durch das verzweigte Höhlensystem. Erst im Aachtopf kommt es wieder an die Oberfläche. Als Radolfzeller Aach fließt es schließlich in den Bodensee.
Der Fisch
Wer bis zum Ende der Aachhöhle tauchen will, muss auf den richtigen Zeitpunkt warten. Das Wasser muss klar sein, außerdem sollte vergleichsweise wenig Wasser aus dem Aachtopf sprudeln - damit die Strömung nicht so stark ist.
Ende August 2015 ist das Land so trocken wie selten, die Schifffahrt auf dem Rhein ist wegen Wassermangels eingeschränkt. Kreiselmaier macht sich also auf zu einem Tauchgang, der ihn zusammen mit seinem Mitstreiter Bogdan Grygoruk ganz ans Ende der Höhle bringen soll.
Von der tiefsten Stelle des Höhlensystems, dem Schacht, tauchen sie langsam den Gang nach oben. Der Tunnel ist breit, sechs, acht Meter. Dafür kommt die Decke langsam näher, ist nur noch drei oder vier Meter über dem sedimentbedeckten Grund. Und genau dort sieht Kreiselmaier plötzlich diese wundersamen Höhlenfische.
"Sie hatten keine Pigmentierung, da konnte man zum Teil die Blutgefäße sehen. Das war was Besonderes, das man draußen nicht sieht", sagt der Taucher.
Im Bodensediment des unterirdischen Flusses suchen die Fische nach ihrer Beute, Höhlenasseln zum Beispiel. Auch Wasserflöhe könnten ihnen schmecken. Kreiselmaier leuchtet die Tiere mit seiner Taucherlampe an - und nichts passiert. Bei einem Tauchgang im November versucht Kreiselmaier dann, einen der Fische zu fangen.
Dabei erlebt er eine Überraschung: Die Tiere weichen ihm trotz fehlenden Sehsinns geschickt aus, sie spüren offenbar feinste Änderungen der Wasserbewegung. Schließlich erwischt er drei Tiere mit einem Netz. Beim Umsetzen in einen Behälter bleibt nur noch ein Fisch übrig. Immerhin.
Die Forscher
Jasminca Behrmann-Godel ist Fischforscherin an der Universität Konstanz. Sie erfährt durch ein Foto von Kreiselmaiers Fund, findet ihn interessant. Wenige Wochen später steht er dann mit dem Tier bei ihr im Institut. "Das war ein Aha-Erlebenis, ein echter Knaller", sagt sie. Den Fisch beschreibt sie als "leichenmäßig blass".
Behrmann-Godel und ihre Koautoren Jörg Freyhof (IGB Berlin) und Arne Nolte (Uni Oldenburg) kennen Höhlenfische aus anderen Teilen der Welt: den Höhlensalmler und Sumpfaale aus Mexiko, Brunnensalmler aus Brasilien, Blindbarben aus dem Kongobecken und dem Irak, Schläfergrundeln aus Nordaustralien.
In Europa, das wissen sie auch, ist bisher noch kein Höhlenfisch entdeckt worden. Zwar gibt es etwa in kroatischen Karsthöhlen Fische, die Teile des Jahres in der Dunkelheit verbringen - aber eben nicht ihr gesamtes Leben. "Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis man auch in Europa so etwas findet", sagt Behrmann-Godel.
Andererseits: Der bisher nördlichste bekannte Höhlenfisch lebt in einer Höhle im US-Bundesstaat Pennsylvania. Sie liegt auf dem 41. Breitengrad - und seine Entdecker hatten postuliert, dass es womöglich weltweit keine nördlicheren Vorkommen geben könne. Schuld daran sei die Vergletscherung während der letzten Eiszeit in diesen Gebieten. Die Aachhöhle liegt nun allerdings auf 47 Grad nördlicher Breite. "Das Gebiet war stark vereist in der letzten Eiszeit", sagt Behrmann-Godel. "Die Fische können erst danach in die Höhle gekommen sein, vor maximal 20.000 Jahren."
Die Verwandten
Fische aus der Überfamilie der Schmerlen leben sowohl stromauf von der Höhle in der Donau als auch stromab in der Radolfzeller Aach. Die in der Höhle entdeckte Population liegt genau dazwischen. Ob es sich um eine eigene Art handelt, müssen weitere Untersuchungen zeigen. Mit genetischen Analysen haben die Forscher aber schon zeigen können, dass sich die Höhlenfische tatsächlich von den oberirdischen Populationen unterscheiden. "Wir haben da eine genetisch isolierte Population mit verschiedenen Altersgruppen", sagt Behrmann-Godel.
Insgesamt fünf lebende Höhlenfische haben die Taucher inzwischen gefangen. Zwei waren erwachsene Exemplare, die anderen Jungtiere. Ein einziges Tier davon lebt noch. Es schwimmt in Bodenseewasser in einem abgedunkelten Aquarium an Behrmann-Godels Institut. Ein kleines bisschen sei das Tier trotzdem nachgedunkelt, sagt sie. Das liege daran, dass die Schmerlen noch über einige sogenannte Melanozyten verfügen, Zellen also, mit dunklem Farbstoff darin. Eine Erinnerung an die Zeit, als sie noch bei Tageslicht lebten.
Die Forscherin geht inzwischen davon aus, dass die Höhlentaucher gewissermaßen nur die Vorhut einer großen Population entdeckt haben, die irgendwo noch unentdeckt in der Finsternis des riesigen unterirdischen Donau-Aach-Systems lebt. Der geheimnisvolle Höhlenfisch hat längst noch nicht alle seine Geheimnisse preisgegeben.
Quelle: Spiegel Online