Der Wolf offenbart die Natur des Menschen

"Wölfe sind hervorragend geeignet, diese Frage zu beantworten", sagt Kotrschal, der seit 1990 die Konrad-Lorenz Forschungsstelle in Grünau im Almtal leitet und damit der Nachfolger des berühmten Verhaltensforschers ist. "Kein anderes Tier ist uns in seinem Wesen und in seiner sozialen Ausrichtung so nahe wie der Wolf." Sowohl Homo sapiens als auch Canis lupus seien kooperative Jäger und Sammler. "Beide sind zu den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft fürsorglich, gegenüber Außenstehenden aber misstrauisch und nicht selten mörderisch brutal."

Was bringt Menschen und Wölfe zur Zusammenarbeit?

Bei der Forschung gehe es um die grundlegenden Prinzipien des Zusammenlebens: Unter welchen Bedingungen kooperieren Individuen? Wie kommunizieren sie eigene Wünsche, wie erkennen sie die der anderen? Zwar könne man auch den Menschen direkt studieren, um etwas über dessen Sozialverhalten zu erfahren, sagt Kotrschal. "Aber man kann damit nicht klären, wo alles herkommt. Man könnte die Phänomene beim Menschen nicht deuten ohne den Vergleich mit anderen Arten." Die Forscher hoffen, in den kommenden Jahren mit Hilfe zahlreicher Versuche Antworten zu finden.

Kotrschal, der das WSC 2010 mit Friederike Range und Zsófia Virányi gegründet hat, legt jetzt ein neues Buch über das jahrtausendealte Miteinander zwischen Wolf und Mensch vor. Und das steht mit der Rückkehr des Wolfs nach Westeuropa vor einem neuen Kapitel, das einen abgeklärt-pragmatischen Blick wie den Kotrschals notwendiger denn je erscheinen lässt.

16 Rudel mit insgesamt weit mehr als hundert Tieren gibt es inzwischen wieder in Deutschland, wie das sächsische Kontaktbüro Wolfsregion Lausitz schätzt. 15 Rudel leben demnach in den neuen Bundesländern. Seit kurzem gibt es erstmals seit mehr als hundert Jahren auch wieder eines in Niedersachsen, auf dem Truppenübungsplatz Munster-Nord.

Rückkehr der Wölfe löst gemischte Gefühle aus

Die Deutschen sehen die Rückkehr des Isegrim mit gemischten Gefühlen. Das verdeutlicht schon ein Blick in die Zeitungen der vergangenen Wochen. Die "Dresdner Morgenpost" etwa fand es "zum Heulen schön", dass in diesem Sommer 13 neue Wolfsbabys in der Lausitz gesichtet worden seien. "Wolf reißt in Niedersachsen vier Heidschnucken" titelte dagegen die "Sächsische Zeitung".

Auf dem Truppenübungsplatz bei Munster piesackten Mitte September drei Jungwölfe einen Bundeswehrsoldaten. Das Trio soll dem Mann nachts neugierig und in einigem Abstand nachgelaufen sein. Erst nach einer Fußtritt-Attacke hätten die etwa sechs Monate alten Tiere Reißaus genommen. "Bundeswehrsoldat von Wölfen verfolgt", schrieb daraufhin die "Süddeutsche Zeitung", von einem "unheimlichen Vorfall" berichtete die "Bild"-Zeitung, "Wölfe wecken alte Ängste", hieß es in der "Welt".

Die zitierte auch den Gründer eines "Bündnisses gegen den Wolf". Der fand nicht nur die Soldatenverfolgung typisch wölfisch. Er durfte auch behaupten, dass die Raubtiere demnächst ganze Schafsherden umbringen, Rinder und Pferde verspeisen und am Ende gar einen "Großteil des Wildes" verschwinden lassen würden. Menschen seien ebenfalls in Gefahr - das bewiesen die Erfahrungen aus Russland während des Zweiten Weltkriegs.

Dass Deutschland im Spätsommer 2012 ein wenig anders aussieht als Russland 1942, stört da offenbar ebenso wenig wie die Tatsache, dass noch kein Wolfsrudel jemals einen Wald leergefressen hat. In der Lausitz, dem Gebiet mit der aktuell größten Wolfsdichte in Deutschland, haben sich die Dichten von Reh, Hirsch und Wildschwein laut Kotrschal nicht wesentlich verändert, "obwohl Reh die Hälfte der Beute von Wölfen ausmacht". Nun gut, die Mufflons seien verschwunden. Die aber seien ohnehin einst nur zum Zweck der Jagd eingeführt worden. "Die Wölfe haben sozusagen Flurbereinigung betrieben."

Wölfe finden Gleichgewicht mit ihrem Umfeld

Hätten sich Wölfe erst einmal in einer Gegend etabliert, gingen die Zwischenfälle mit Nutztieren zurück, und es stelle sich automatisch ein Gleichgewicht ein. "Wölfe, die man nicht bejagt, regulieren ihre Dichten selber", erklärt Kotrschal. Das geschehe sowohl über die Menge des Nahrungsangebots als auch über die teils brutale Konkurrenz mit benachbarten Rudeln. "Wenn man aber ständig durch Abschüsse eingreift, kommt das System nicht zur Ruhe."

Dennoch werde das Zusammenleben zwischen Wolf und Mensch "nie ganz konfliktfrei ablaufen". So laute eine von Tierschützern gern verbreitete Behauptung, es gebe in Europa keinen einzigen bewiesenen Fall, in dem ein Wolf einen Menschen gezielt getötet und gefressen habe. "Das ist Unsinn", sagt Kotrschal. "Leider."

Immer wieder, wenn auch äußerst selten, haben sich Wölfe Menschen schmecken lassen - auch wenn die eigentlich nicht ins Beuteschema passen. Als derzeit zuverlässigste Sammlung von Todesfällen gilt eine im Januar 2002 veröffentlichte Studie des Norwegischen Instituts für Naturforschung (Nina). 18 Fachleute haben Berichte über Wolfsangriffe aus mehreren Jahrhunderten zusammengetragen. Der älteste datiert aus dem Jahr 1557, der jüngste ereignete sich 2001.

Viele hundert Todesfälle haben die Forscher weltweit gezählt. Allerdings zeigte sich auch ein dramatischer Rückgang im 20. Jahrhundert. In Europa konnten die Experten in den vergangenen 50 Jahren nur noch vier Fälle nachweisen, in denen Menschen von nicht-tollwütigen Wölfen getötet wurden. In Russland habe man ebenfalls vier, in Amerika keinen Fall finden können. Und das, obwohl zu Anfang des Jahrtausends 10.000 bis 20.000 Wölfe in Europa, 40.000 in Russland und 60.000 in Nordamerika gelebt hätten.

"Wölfe haben das Recht, hier zu leben. Punkt."

Die Nina-Experten führen die geringen Zahlen vor allem darauf zurück, dass die Bedingungen, die in früheren Jahrhunderten zu Wolfsangriffen geführt haben, im heutigen Europa kaum noch existierten. "Viehherden etwa werden nicht mehr von Kindern gehütet, die rund 90 Prozent aller Opfer nicht-tollwütiger Wölfen ausmachen", sagt Kotrschal. "Und die Menschen sind in großer Zahl vom Land in die Städte gezogen."

Für einen Deutschen dürfte es heute wahrscheinlicher sein, im Karibikurlaub von einer herabfallenden Kokosnuss erschlagen als daheim von einem Wolf gefressen zu werden. Dennoch stellen Kritiker die Frage: Warum sollte man das Risiko durch Wölfe überhaupt in Kauf nehmen, und sei es noch so gering?

"Natürlich kann man ökologisch argumentieren und sagen, Wölfe sind wichtige Raubtiere und halten die Wildbestände gesund", sagt Kotrschal. Doch das wesentlich stärkere Argument sei das ethische. "Wir muten den Leuten in Afrika und Asien wie selbstverständlich zu, Löwen und Elefanten zu schützen, was mit sehr hohen Kosten und dem Verlust von Menschenleben verbunden ist." Die Sorge über Wölfe in Europa sei im Vergleich dazu "absolut lächerlich". Selbst Kühe und Pferde würden in Deutschland und Österreich mehr Menschen töten als Wölfe. "Wölfe waren immer da", sagt Kotrschal. "Sie haben das Recht, hier zu leben. Punkt."

Von zentraler Bedeutung sei der Respekt vor dem Raubtier. Den haben auch die Mitarbeiter des WSC in Ernstbrunn nicht abgelegt - zu ihrer eigenen Sicherheit. Sie gehen beispielsweise nie allein in ein Gehege. Was sonst geschehen kann, zeigt das tragische Ende einer Pflegerin in einem schwedischen Tierpark. Die Frau hatte im Juni 2012 allein ein Gehege mit acht Wölfen betreten - und wurde später tot aufgefunden.

Handaufzucht macht aus einem Wolf kein Kuscheltier

Die Wölfe in Schweden waren wie die in Österreich von Hand aufgezogen. Das Ergebnis ist eine Vertrautheit zwischen Mensch und Wolf, die für Außenstehende beinahe intim wirken kann. Dennoch zeigt das Unglück in Schweden, dass ein Wolf auch nach der Handaufzucht ein Wolf bleibt. Von der Domestizierung, die mit einer genetischen Veränderung einhergeht, ist er weit entfernt.

Deshalb werden auch die Forschungsergebnisse durch die Handaufzucht nicht verfälscht, wie Kotrschal betont. Vielmehr verbesserten sich die Bedingungen. "Wenn die Wölfe an Menschen gewöhnt sind, kann man Fragen stellen, die sie unbeeinflusst von Angst beantworten können." Die Handaufzucht produziere "Tiere, die kooperativ sind und den Kopf frei haben".

Völlig anders sehe es dagegen in freier Wildbahn aus. In den USA und Kanada etwa gewöhnten sich in Schutzgebieten lebende Wölfe immer mehr an den Menschen. Mancher Naturromantiker versucht gar, Mitglied eines Rudels zu werden - und bringt dadurch nicht nur sich selbst in Gefahr. Denn Wölfe ohne Scheu könnten auch zur Bedrohung für Unbeteiligte werden.

Sollte ein Wolf Menschen angreifen, kann das das Ende seines gesamten Rudels bedeuten. "Wölfe geben ihr Verhalten stark über Traditionen weiter", sagt Kotrschal. "Wird ein Wolf übergriffig, ist es meist das Beste, das ganze Rudel abzuschießen."

Quelle: Spiegel 2012

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