Bald ein Monat war verflossen, seitdem man Obu halbtot nach Hause gebracht hatte. Die Bärin hatte ihn an den Armen zerfleischt und ihm mehrere Rippen eingedrückt; der viel erfahrenen alten Parre und der treuen Pflege seiner Mutter und seines Freundes war es gelungen, ihn wieder herzustellen.

Wie er es redlich verdient, hatte er den Speer erhalten und war Mann geworden. Damit hatte er sich auch das Recht erworben, eine Familie zu gründen. Seine Braut sollte Ara, das Nallimädchen, sein, das er und Rulaman im Wald getroffen. Sie hatte ja schon damals das Halsband als Liebeszeichen von ihm angenommen.

Eine schwere Sorge lastete auf Obu und auf allen, die dort in der Tulka über diese wichtige Angelegenheit schon seit einigen Wochen berieten.

Seit jener verhängnisvollen Bärenjagd hatten sie nichts mehr von dem reichen Nargu gehört. Doch wusste Obu wohl, wie schwer er ihn beleidigt, denn er hatte von seinem versteckten Lager aus, wo Rulaman ihn hingebettet, den alten Häuptling in seiner Wut bei der Este beobachtet.

Obu war damals, noch ehe der Nargu gekommen war, aus seinem Ohnmachtsschlaf erwacht. Ein warmer Hauch über seinem Gesicht, ein Lecken und endlich ein nagender Schmerz an den Ohren hatten ihn wieder zu sich gebracht. Als er die Augen aufschlug, sah er vor sich den Kopf einer Hyäne, die sich in ihrer Art die leichte Beute zunutze machen wollte. Er griff nach seinem Beil, das ihm Rulaman glücklicherweise zur Seite gelegt hatte, und verjagte ohne Mühe die feige Dabba. Aber er war nicht imstande gewesen, sich auf die Beine zu erheben.

Bald darauf hörte er das Bellen des Hundes, und dann kam der Nargu. Seine Lage war schrecklich. Jeden Augenblick konnte ihn der Hund entdecken. Jedoch die Gefahr ging glücklich vorüber.

Als der Nargu mit dem Hund weggegangen war, wusste Obu, dass er in kurzer Zeit mit Leuten wiederkommen würde. Fort musste er also um jeden Preis.

Er erhob sich mit Anstrengung aller seiner Kräfte und schleppte sich bald aufrecht, bald auf Händen und Füßen, den Pestunkopf nachziehend, bis zu der Stelle, wo ihn die Tulkaleute wieder bewusstlos gefunden hatten.

So kannte also auch Obu schon den strengen Mann, von dem das Schicksal seiner Werbung abhängen sollte.

Dennoch wollte er es wagen, und Rul selbst sagte Ja dazu, teils um Obus willen, den er lieb gewonnen hatte, noch mehr vielleicht aus Klugheit, um seinem Urahn und dem großen Stamm der Nallis wieder die Hand der Freundschaft zu bieten. Auch alle anderen Tulkamänner stimmten zu.


Kampf der Tulkas mit den Nallis in den Vaitafelsen

Nur die alte Parre warnte: „Der Nargu vergisst nie. Er wartet monate-, jahrelang, aber sicherlich rächt er sich. Das ist so Brauch der Nallis. Denkt an den grausigen Felsenkampf, als die Nallis die Tulka stürmen wollten, um mich, die Geraubte, wiederzuholen. Schauerlich war das Geheul der von den Felsstücken Zerquetschten. Aber auch mancher Tulka fiel von den scharfen Nallipfeilen, deren Wunden nicht heilen wollten. Ich glaube fast, sie hatten die Pfeile in Schlangengift getaucht. Es war mitten im Sommer, früh an einem Regenmorgen, und die Männer kämpften fast nackt. Die Nallis kamen nicht über den Brunneweg, sondern gerade den steilen Berg herauf. Wochenlang hatte man den Überfall erwartet, und die Tulkawachen erlauschten die heranrückenden Feinde schon im Vaitatal. So stürzten ihnen unsere Männer entgegen den Berg hinunter bis zu den Vaitafelsen, wo das glänzende Wundkraut wächst. Fast fünfzig und fünfzig Jahre sind darüber vergangen, aber so sicher noch die schönen Keulen der erschlagenen Nallis über der Tulka hängen als Siegeszeichen, so gewiss denkt mein Bruder, der alte Nargu, an Rache für jene Niederlage seines stolzen Vaters, obgleich er selbst damals noch ein Knabe war. Doch um der Kalats willen versucht es, ihn zu versöhnen! Aber nehmt Waffen mit zur Werbung. Hört ihr’s? Waffen!“

Nach altem Brauch warb der Jüngling in Begleitung eines älteren Mannes, der die Geschenke für den Häuptling und die Eltern des Mädchens brachte. Obu bat Repo, mit ihm zu gehen. Aber was für Geschenke waren gut genug für den reichen Nargu? Von den Bärenköpfen konnte keine Rede mehr sein, auch hätten sie den Alten nur aufs neue aufgebracht. Die alte Parre selbst riet, ihm das Kostbarste, was die Tulkahöhle barg, das Burriafell, zu bringen, obwohl es ihr Stolz und ihre Freude war. Für eine Versöhnung aller Aimats gegen die Weißen war auch ihr kein Opfer zu groß.

Rul gab Repo einen langen, schön geglätteten Dolch aus Renntiergeweih mit, als Zeichen der Freundschaft und eines Bündnisantrags.

In neuen Renntiergewändern, schöne, lange Wolfspelze über den Schultern, verließen Repo und Obu die Tulka. Statt der Renntiermützen trugen sie heute solche aus weißem Wolfspelz. Auf Repos Mütze war eine ganze Reihe von braunen Büschelchen aus Bärenhaar gesteckt, auf Obus nur eins. Diese Büschelchen an der Festmütze des Mannes galten als hohe Ehre. Sie zeigten die Anzahl der Höhlenbären an, die er erlegt hatte. Außerdem waren Hals und Brust reich mit glänzenden Zahnketten behangen, und die Brust des Burriamate zierte der mächtige Hauer des Höhlenlöwen. Sie waren in voller Waffenrüstung, das Burriafell trugen sie zusammen an einem langen, starken Speer.

Es war Abend geworden, als sie in der Nähe der Nallihöhle anlangten.

Eine große Menge von Männern, Frauen und Kindern bewegte sich vor der Höhle unter den Apfelbäumen, deren Früchte man eben einerntete.

Obus Blicke suchten Ara. Er sah sie mit einem Körbchen voll Äpfel auf dem Kopf nach der Höhle wandern. Auch sie hatte ihn erblickt und kam freundlich auf ihn zu.

Repo hatte einen der älteren Männer angesprochen und verlangte nach dem Häuptling. Mit Befremden sah der Nalli den Tulkamann an. Offenbar erkannte er ihn. Er ging hinein in die Höhle, um dem Nargu die Botschaft zu bringen.

Unterdessen waren Frauen und Kinder neugierig herbeigekommen; ein Flüstern ging durch die Menge; man starrte die Tulkas staunend an, ohne sie freundlich zu begrüßen, wie es sonst bei den Aimats Sitte war.

Erst nach geraumer Zeit kehrte der Bote aus der Höhle zurück. Repo sollte allein hineinkommen. Dieser zögerte. Führte der Alte Rache und Verrat im Sinn? Es war wohl bekannt unter den Aimats, dass er schon öfters Menschen im Zorn getötet hatte. Doch Repo wollte nicht als feig gelten, und im Notfall hatte er sein gutes Beil. Er warf das Burriafell über die Schulter und trat hinein.

Der alte Nargu saß allein in einer Seitengrotte nahe dem Eingang der Höhle. Nur sein treuer Hund war bei ihm. Jene Grotte war aber nicht seine Werkstätte, sondern sein Empfangszimmer. Die Wände waren ringsherum reich mit schönen weißen Wolfspelzen behangen, der Boden mit dicken Bärenfellen bedeckt.

Eine der pelzverkleideten Wände des Gemachs war über und über besetzt mit Waffen und Werkzeugen aus Stein, mit Beilen, Lanzen- und Pfeilspitzen, Messern und Sägblättchen. Weitaus die meisten waren aus dem Flint (Feuerstein) der Alb, nur einige, länglich-herzförmige Beile aus einem schönen glänzenden, grünen Stein gefertigt. Dies waren kostbare Stücke, vom fernen Osten eingeführt. In der Mitte der Wand funkelten Ringe, Messer und einige Schwerter aus Kupfer. An der Wand gegenüber sah man eine ähnliche Sammlung der verschiedensten Waffen aus Renntiergeweih, sämtlich, wie jene aus Flint, von dem Alten selbst gefertigt. Auch ein prächtiger Dolch aus Twobazahn (Elfenbein) war darunter. Vor allem prangte hier ein großes Stück eines Twobazahns, auf dem mancherlei Figuren eingegraben waren, zum Beispiel die Umrisse des Twoba selbst, sodann – auf glatten Geweihstücken – die von Renntieren, Uson, Bären, sogar von Menschen. Ob diese Zeichnungen von der Hand des Nargu herrührten, oder ob er diese Stücke mit den ersten Anfängen menschlicher Kunst, wie die Kupferwaffen und die grünen Steinbeile, von den weißen Kalats eingehandelt hatte, wissen wir nicht.


Zeichnung eines Bären auf einem Stein (Schatzkammer des Nargu)

Sicher musste diese Grotte für die Begriffe der Aimats ein wahres Prunkgemach sein. Dessen schien sich auch der Alte vollkommen bewusst. Denn breit und stolz saß er im Hintergrund auf einer mit Fuchspelz bedeckten Steinbank. Auch die Kleidung des Nargu war, wohl für den feierlichen Empfang, prächtig. Er trug ein langes rotes, gewobenes Gewand, mit weißem Pelz verbrämt, das er von den Weißen im Handel erworben hatte. Sein Hals war mit einer Kette von glänzenden kupfernen Blättchen, Arme und Beine mit eben solchen Spangen geschmückt. Auf dem Kopf trug er einen spitzen Hut, besäumt mit Schwanenpelz und gleichfalls mit blinkenden Kupferblättchen und Ringen verziert.


Repo in der Nallihöhle beim reichen Nargu

In der Hand hielt der Alte eine Trinkschale, aus der Schädelkapsel eines Renntiers gefertigt. Er hatte wohl Kum getrunken. Eine schlimme Vorbedeutung für Repo, der diese Leidenschaft wohl kannte.

„Wer bist du und wer schickt dich?“, fuhr er Repo stolz und hart an. Repo bot ihm den Renntierdolch und damit im Namen seines Häuptlings Freundschaft an. Er sprach von der notwendigen Einigkeit der Aimats gegen die herannahenden Weißen. Der Alte aber antwortete wie ein kluger Handelsmann: „Ich habe keine Feindschaft mit den Weißen. Weiße und Aimats, beide sind meine Freunde. Wenn die Weißen in unser Land kommen wollen, so wollen wir ihnen freundlich entgegengehen. Sie werden uns lehren, die Tiere zu unseren Dienern zu machen, nützliche Bäume und Kräuter zu pflanzen und aus dem Sonnenstein Messer und Beile zu fertigen. Die weißen Häuptlinge sind mächtiger als wir. Ihr Volk ist folgsamer als unser Volk. Wenn wir ihnen feindlich entgegentreten, so werden sie uns Häuptlinge töten und die Aimats zu Sklaven machen.“ So sprach der Nargu.

Indes waren die Blicke des Alten auf das Burriafell gefallen. Seine Züge glätteten sich. Er fragte, wo und wie sie den Burria erlegt, und schüttelte sogar Repo als Burriamate die Hand. Er erhob sich von seinem Sitz, breitete das Burriafell seiner ganzen Länge nach über den Boden aus, und mit Wohlgefallen ruhten die Augen des habgierigen Häuptlings auf dem kostbaren Geschenk.

Jetzt wagte Repo, für Obu um seine Enkeltochter Ara zu werben.

„Wo ist der Jüngling?“, fragte Nargu.

Obu trat ein. Die Miene des Alten, der sich wieder niedergelassen hatte, verfinsterte sich. Zitternd stand der sonst so mutige Obu vor dem harten Mann.

„Wo hast du Ara gesehen?“, fragte er.

Obu, der seine Fassung wieder gefunden hatte, beantwortete seien Frage frei und offen.

Jetzt hob der Alte einige Pfeilspitzen aus Feuerstein vom Boden auf, noch von Blut gerötet.

„Kennst du diese Steine?“, fragte er Obu.

Obu versetzte ehrlich: „Es sind Spitzen von meinen Pfeilen.“

Wie von einer Schlange gebissen sprang der Alte von seinem Sitz auf, riss ein Schwert von der Wand, trat vor Obu hin und schrie: „Also hast du, du selbst, meine arme Este und meinen Pestun gemordet! Und du Kopfabschneider, du Schlingenjäger, du wagst es, um ein Nallimädchen zu freien! Ihr Tulkawilddiebe, ihr Hungerleider müsst ja das Fleisch stehlen für eure Weiber und Kinder!“

Dabei erhob er sein Schwert und wollte Obu niederhauen. In demselben Augenblick traf das wuchtige Steinbeil Repos die Hand des Nargu, so dass das Kupferschwert klirrend an die Wand flog.

Jetzt sprang der große Hund des Nargu, der knurrend hinter seinem Herrn gestanden hatte, Repo an die Kehle. Aber ihn schlug Obu mit dem Steinbeil nieder. Der Alte schrie wie rasend, und ein furchtbares Getümmel entstand am Eingang der Höhle.

Die Nallimänner drangen auf die beiden ein, jedoch diese, wütend ihre Steinbeile über dem Kopf schwingend, machten sich eine Gase und retteten sich kämpfend und aus vielen Wunden blutend durch den tollen Haufen ins Freie und fort in den Wald. Keiner der Nallis wagte es, den durch ihre Tapferkeit weit und breit berühmten Tulkamännern zu folgen.