Wenn wir das Leben unserer Aimats nur nach den wenigen Tagen, die wir bis jetzt geschildert haben, beurteilen wollten, so könnte man denken, es sei ein vollständig regelloses gewesen. Das war aber nicht so. Auch ihr Jahreslauf teilte sich wie der unsrige nach Jahreszeiten und Monaten, und wie unserem Landvolk, das noch heute weit mehr mit der Natur lebt als der Städter, so brachte auch ihnen jede Jahreszeit, ja sogar jeder Monat, seine besonderen Arbeiten und Genüsse, Freuden und Leiden.

Schon die Art, wie sie die Monate benannten, weist darauf hin. Da gab es einen „Kadde“-, das heißt Renntiermonat; es war der Mai, die Zeit, wo die jungen Renntiere zur Welt kamen und wo man diese mit ihren Müttern ohne Mühe fing und fast ganz von Renntieren lebte. Dann kam der „Mansika“-, das heißt Erdbeermonat. Darauf folgte der Reisemonat, der Juli. Der August war der „Hauk“-, das heißt „Hechtmonat“. Die beiden letzteren zumal spielten eine große Rolle im Leben des Aimats. Gegen Mitte Juli nämlich regte sich die Wanderlust in allen Höhlenbewohnern der Alb. Von nah und fern zogen sie in langen Karawanen sechs, acht bis zehn Tagesreisen weit nach den Seen, deren es einen größeren nach Norden zu im Tal des Norgeflusses gab, Twobasee genannt, eine noch bedeutendere Anzahl aber nach Süden, nach dem Eisgebirge zu.

Jung und alt freute sich schon lange vorher auf diesen sommerlichen Ausflug, fast die einzige Zeit im Jahr, wo man auch mit anderen Stämmen zusammentraf, besonders mit den See-Aimats, die im Gegensatz zu den Berg-Aimats, die in Höhlen lebten, sich Erdwohnungen an den Ufern der Seen gebaut hatten. Sie lebten fast ausschließlich von Fischen, an denen damals kein Mangel war, denn die Menschenbevölkerung des Landes war noch sehr dünn und nicht entfernt mit der jetzigen zu vergleichen.

Man hatte nun die Wahl zwischen dem Twobasee im Norden, wo die Weißen schon ihre Hütten gebaut hatten, und dem Som-, das heißt Welssee im Süden. Um mit den Weißen nicht in Berührung zu kommen, entschied die alte Parre für den letzteren.

Die Hauptregel für den Reisenden lautete: wenig Gepäck. Sie zu befolgen war unseren Aimats leicht gemacht. Alles, was nicht durchaus nötig war, blieb in der Höhle zurück. Bei dem gänzlichen Mangel an Haustieren, die Lasten hätten tragen können, musste alles zu Fuß wandern. Die Kleinen wurden von ihren Müttern in einem Korb auf dem Rücken getragen. Für die Alten, die nicht mehr gehen konnten, musste etwas umständlicher gesorgt werden. So wurde für die alte Parre eine Art Tragbahre, ein großer Weidenkorb zwischen zwei Stangen, angefertigt, ein zweiter, ähnlicher Korb für Renntierfelle zum Zeltbau, für Werkzeuge und Töpfe. Jeder dieser Körbe wurde von zwei Männern, die Stangen über die Schulter gelegt, getragen.

An einem schönen Julimorgen, noch vor Sonnenaufgang, brach man auf, nachdem der Höhleneingang notdürftig mit Baumstämmen gegen Bären und andere wilde Tiere verrammelt war. An gemeinen Diebstahl von Seiten anderer Menschen dachte man nicht. Diebstahl war in jenem Steinzeitalter, wie man es im Gegensatz zu unserem, wo das Gold herrscht, nennen könnte, fast unbekannt.


Aimats auf der Wanderung

Den Zug eröffnete wie immer der Häuptling, diesmal mit Rulaman, der seit dem Burriafest bei keinem Ausflug mehr von seiner Seite gewichen war. Ihm folgten die Männer mit der alten Parre, dann der übrige Tross, Weiber und Kinder. Die jungen Burschen beschlossen den Zug.

Auch der junge Bär und das kleine Renntier trotteten mit. Sie mussten es sich sogar uf dem Weg oft gefallen lassen, dass Knaben und Mädchen aus Mutwillen oder wenn sie müde geworden waren, sich ihnen auf den Rücken setzten.

Rabe und Dohle waren alte Vögel, die schon oft diese Sommerreise mitgemacht hatten, und auch sie schienen voll Wanderlust. Krächzend flogen sie bald um den Zug herum, bald ein gut Stück voraus, als müssten sie den Weg zeigen. Gewöhnlich aber saßen sie gemütlich auf dem Korbrand der alten Parre, die sich gern mit ihnen zu schaffen machte.

Natürlich konnten nur kurze Tagesreisen zurückgelegt werden, und der Somsee, der für Männer allein vier Tagesmärsche entfernt war, wurde meinst erst nach einer Woche erreicht.

Man wanderte nur nachmittags bis Sonnenuntergang, dann wurde im Wald oder auf der Ebene unter großen Bäumen, immer in der Nähe einer Quelle oder eines Baches, gelagert und Feuer angemacht. Für jede Nacht wurden Zelte aufgeschlagen, die man mit Renntierfellen bedeckte.

Mit Tagesanbruch zogen die Männer auf die Jagd. Es war kein Geringes, für so viele Menschen, groß und klein, Nahrung zu schaffen. Doch war das Wild in jenen unbewohnteren Gegenden, durch welche die Karawane ihren Weg nahm, noch reichlich. Freilich wurde auch fast nichts verschmäht. Nicht nur größere Tiere, sondern auch Hasen, Eichhörnchen, Haselmäuse, sodann alle Arten Vögel, ausgenommen die Eulen, im Notfall selbst Eidechsen und Frösche, waren willkommen.

Auch die Weiber und Kinder halfen getreulich mit. Vom frühen Morgen bis zum Mittag, wo Mahlzeit gehalten wurde, zerstreuten sie sich über Berg und Tal, durch Ebene und Wald, um Erdbeeren, wilde Stachelbeeren, Pilze, Rapunzeln, wilde Möhren und anderes zu suchen.

Die älteren Knaben und Mädchen bildeten eigene Jagdpartien. Diese galten vor allem den Vögeln. In den dichtesten Gebüschen, in den höchsten Baumkronen erspähten sie die Nester, und wie Eichhörnchen kletterten sie, Knaben und Mädchen, auf die höchsten Eichen, Tannen, Eiben und Erlen. Wo Junge im Nest waren, wussten sie mit Leimruten und Rosshaarschlingen leicht auch die Alten auf dem Nest zu fangen, und ohne Gnade wanderten alle miteinander, alte und junge, in den Kochtopf.

War vollends ein Bach in der Nähe, so jagten sei eifrig den Forellen und Krebsen nach. Die Forellen haschten sie sehr geschickt mit den Händen in den Uferlöchern; für die Krebse legten sie Fleisch aus und fingen sie oft in großer Menge. Sie wurden roh mit der Schale verzehrt und galten als besondere Leckerbissen. Ja, mit nichts konnten sie die gute, alte Parre, die stets allein mit den zahmen Tieren bei den Zelten Wache hielt, mehr erfreuen, als wenn sie ihr eine Anzahl dieser zappelnden Geschöpfe in den Schoß schütteten.

Das waren glückliche Tage für das junge Volk, diese Tage der Wanderung, aber auch ein jäher Schrecken und schweres Leid trafen sie auf der Reise.

Es war beim Lagern an dem uns wohlbekannten Walbasee. Dort wurde ein kleines Mädchen beim Erbeersuchen von einer Otter in den Fuß gebissen. Schreiend brachten sie die anderen Kinder, die die Gefahr wohl kannten, zur alten Parre. Es hatte wohl eine halbe Stunde gedauert, bis sie ankamen, denn der Weg war weit. Das Glied war schon dick angeschwollen, das Kind totenbleich und vor Angst und Schmerz fast ohnmächtig.

Die erfahrene Alte schüttelte den Kopf, wollte aber doch nichts unversucht lassen, sog die Wunde aus und brannte sie mit glühender Kohle. Standhaft, ohne zu schreien, ertrug das Kind den furchtbaren Schmerz. Dann legte die Alte einen kalten Kieselstein auf und band ihn mit dünnen Lederriemen so fest als möglich. Sie rieb das dick geschwollene Bein mit ihren mageren Händen, unverständliche Worte vor sich hinsummend. Allein, all ihre Kunst war diesmal vergeblich. Unter furchtbaren Krämpfen starb das arme Kind schon nach wenigen Stunden.

Das war ein harter Schlag für die Tulkaleute. Sie waren doch eigentlich nur eine Familie, gleichsam lauter Brüder und Schwestern. Das Kind war ein Töchterchen des braven Repo. Als er mittags von der Jagd nach Hause gekommen war und seine kleine Rutha tot fand, schrie der starke Burriamate, dem kein körperlicher Schmerz je einen Wehlaut erpresst hätte, laut auf und rannte wie wahnsinnig fort in den Wald. Erst nach drei Tagen kam er abgemagert und bleich wieder bei der Karawane an.

Dem toten Kind füllte man, der Sitte gemäß, beide Händchen mit den besten Beeren, die man finden konnte, zur Wanderung in die große, schöne Höhle, in der die Aimats nach dem Tode alle zusammen wohnen sollten. Die kleine Leiche wurde in einen Wolfspelz eingenäht und am Fuß eines freistehenden, uralten Eichenbaumes im nahen Wald, nicht weit vom Walbasee, begraben.

Dann wälzten die Männer einige schwere Steine auf den Hügel, damit die Leiche nicht von Bären, Hyänen oder Wölfen ausgegraben würde. Auch alle anderen warfen einen Stein darauf. Dies war auch sonst brauch bei den Aimats. Keiner ging an solchen Grabhügeln, die man da und dort in Feld und Wald antraf, vorüber, ohne seinen Stein zu den übrigen zu werfen.

Zum Schluss wurde unter dem jammervollen, melancholischen Klagegesang der Weiber und Mädchen bei Fackelschein der übliche Totenreigen von den Kindern um das Grab herum getanzt.

Am anderen Tag schien die kleine Rutha schon vergessen. Ein Aberglaube verbot es, in der ersten Woche von den Verstorbenen zu reden. Man lebte weiter in alt gewohnter Weise. Während der Vater seinen Schmerz in der Einsamkeit verbarg, gebot die Sitte der Mutter ein dreitägiges Fasten.

Vom Walbasee, wo sie die schwere Trauer gehabt hatten, zog unser Aimatvölklein weiter, zunächst an den Langen Fluss. Der Weg dahin führte durch das Fels umkränzte, grüne Ulatal. Hier war eine ihnen wohlbekannte Ansiedlung von Aimats, die Ulahöhle, viel beneidet von den Stammesgenossen wegen des fischreichen Baches, der nah am Eingang vorüber floss, berühmt weithin durch ihren Häuptling, den Kenner des schwarzen Wassergesteins, in dem verborgene Quellen lagen. Manche Höhle verdankte ihm die Auffindung eines solchen kostbaren Schatzes in der Nähe.


Die Ulahöhle

Rakso, so hieß der Häuptling der Ulas, war ein kluger, munterer Mann, ein treuer Jugendfreund Ruls, dessen ernsterem Sinn die nie getrübte Heiterkeit und die lustigen Einfälle des anderen wohl taten. Rul sprach mit ihm von den Kalats. Rakso nahm die Sache nicht gerade schwer. „Was ist’s drum?“, meinte er, „wenn die Kalats uns zu nahe rücken, so ziehen wir an den See. Mich plagt ohnehin oft genug die Langeweile in der Winterhöhle. Am See geht’s anders zu; da gibt’s mehr Leute, Lust und Leben und gar der Eistanz auf dem glatten See!“ Rul aber erwiderte: „Sprich nicht davon; ich kann meine Berge nicht lassen!“

Rul lud den Freund zur Mitreise an den See ein, und dieser war sofort dazu bereit.

Es wurde also Rasttag gemacht, bis die Ulas zur Reise fertig waren. Nach reichlicher Labung an frischen Ulaforellen zog am anderen Morgen die vergrößerte Karawane weiter.

Als sie endlich am Langen Fluss, einem breiten, reißenden Strom, der „weit, weit nach dem Aufgang der Sonne zu fließt“, angekommen waren, machte man Halt. Sie mussten hinüber, denn erst einige Tagesreisen südlich lag der Somsee. Das Übersetzen war immer der gefürchtetste und gefahrvollste Teil der Reise. Unsere sonst so tollkühnen Tulkas fühlten sich dem ungewohnten Element gegenüber weniger zuversichtlich. Einige Flöße aus alter zeit lagen hier am Ufer. Vielleicht war dies seit Jahrhunderten die Stelle, wo die nördlich des Flusses wohnenden Aimats überzufahren pflegten. Die Flöße waren immer mangelhaft und mussten jedes Mal wieder hergestellt werden. Treulich standen hierbei die sachverständigen Ulas mit Rat und Tat bei.

Am dritten Tag wagten sie die Überfahrt, und sie ging unter vielem Lärm der Kinder und der zahmen Tiere glücklich vonstatten.

Von da ging die damalige Karawanenstraße am rechten Ufer des Langen Flusses hinauf bis zum Kansabach, in dessen Tälchen aufwärts die Aimats endlich am Mittag des achten Tages das Ziel ihrer Reise, den Somsee, erreichten.

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