Es war vor tausend und abertausend Jahren. Die Eiszeit war an ihrem Ende, die Erde wieder wärmer, die Sonne mächtiger geworden. Aber noch war unser Deutschland ein unwirtliches Land; denn noch herrschte die wilde Natur allerorten, und der damalige Mensch, der Höhlenmensch, griff in sie kaum ein als das Raubtier, mit dem er kämpfte.
In dieser alten Zeit war es, da sehen wir im Geiste an einem warmen Frühsommer-Nachmittag auf dem freien, sonnigen Platz vor dem Eingang einer unserer Albhöhlen, die jetzt einsam und verlassen im Waldesdüster verborgen liegt, ein lustiges, munteres Treiben. Nackte, gelbbraune Kinder mit schwarzen, struppigen Haaren kollern auf dem weichen Grasboden herum. Auf einem jungen Bären reitet ein mutwilliger Knabe und schlägt mit einem Tannenzweig auf ihn los, während ein anderer ihn an einer Waldrebe, die er um seinen Hals geschlungen hat, vorwärts zerrt. Dort liegt ein zahmer Wolf; daneben ein etwa vierzehnjähriger Junge, der ihm Kopf und Nacken streichelt, während das Tier ihm gutmütig das Gesicht leckt. Andere Knaben jagen sich in den Ästen eines uralten Eibenbaumes herum, der etwas im Hintergrund, nahe dem Eingang der Höhle steht, und dessen schwarzgrün glänzender Nadelwald sich scharf von dem grauen, Sonne beschienenen Felsen abhebt. Aufrecht springt dort einer auf einem waagerechten Ast hinaus, die Arme weit ausgestreckt. Jetzt wird der Ast zu dünn, um ihn zu tragen, und wie der Blitz lässt er sich herunter, ergreift ihn mit beiden Händen, hängt frei schwebend in der Luft und schwingt sich im nächsten Augenblick hinab auf einen anderen, den er ebenso geschickt erfasst, und von dem er in einem mehrere Klafter tiefen Sprung hinunterhüpft auf den Boden und hinein in die Höhle; mit lustigem Lachen ein zweiter, dritter, vierter Knabe ebenso schnell hinter ihm drein.
Aber nicht lange, so kommen alle wieder aus der Höhle hervor. Jeder hat eine Art Beutel aus Tierfell mit Hölzernem Griff in der Hand. Es sind Schleudern. Links vom Eingang der Höhle, gegenüber der Eibe, steht eine knorrige, dicke Eiche hart am Abgrund, nur eben noch in den Spalten des Felsens wurzelnd. Die meisten Äste sind dürr und starren kahl in die blaue Luft hinaus. Hoch droben hängen höchst merkwürdige Zierraten, zuoberst ein mächtiger Höhlenbärenschädel mit grinsenden Zähnen, an einem anderen Ast ein toter Uhu und weiter draußen ein Habicht. Höher oben baumelt eine Wildkatze, an ihrem dicken, buschigen schweif aufgeknüpft, einige Schritte davon ein Fuchs, lauter Jagdzeichen und zwar solche, die zur Nahrung nicht taugen. Nach ihnen hinauf blicken jetzt die Knaben. Jeder legt vor sich einen Vorrat von runden Kieselsteinen, von der Größe einer starken Kinderfaust, die sie stundenweit unten im Tal zu diesem Zweck sich geholt haben, denn sie finden sich nirgends dort herum auf der Alb.
Das Werfen mit der Schleuder beginnt; zuerst nach dem Bärenschädel, den keiner fehlt, dann nach den höher aufgehangenen Tieren, wobei hin und wieder ein schöner Kieselstein, zum Ärger des Schützen und zum Spaß der übrigen, am Ziel vorbeisausend, weit über den Abgrund hinaus ins Tal fliegt.
Nicht weit davon spielen kleine Mädchen mit einem zahmen, jungen Renntier. Lustiges, übermütiges Geschrei ertönt von allen Seiten.
Ein großer Kolkrabe und eine Dohle spazieren gravitätisch einher. Der Rabe trägt kleine Steinchen und Topfscherben zusammen. Jetzt seiht er einen Knochen, an dem noch Fleischreste hänge, Überbleibsel einer Mahlzeit. Rasch hüpft er damit in eine Ecke, fasst ihn dort mit den Krallen und nagt ihn vollends ab. Die Dohle ihm nach, immer in achtungsvoller Entfernung.
Im Hintergrund, näher bei der Höhle, kauert mit untergeschlagenen Beinen eine Anzahl Frauen um einen großen Aschenhaufen, aus dem hin und wieder ein Flämmchen emporzüngelt und über dem sich, in ziemlicher Höhe, auf vier hohen Freipfosten ein einfaches, aber dichtes Dach aus Flechtwerk erhebt, zum Schutz gegen den Regen. Die Gesichtsfarbe der Frauen ist gelblich, die Augen schief liegend, schwarz und halb geschlossen. Ihre straffen, dunklen Haare hängen in einen Knoten zusammengeknüpft über den Nakcen herunter. Sie sind bekleidet mit Renntierfellen, die, vorn zusammengenäht, bis an die Knie reichen. Arme und Füße sind nackt. Einige haben an ihrem Busen kleine Kinder, die, so klein sie sind, munter ihre Köpfchen drehen und wie junge Äffchen mit großen, klugen, unruhigen Augen das Treiben der älteren Kinder verfolgen.
Laut unterhalten sich die Weiber in einer schnarrenden Sprache, sie gestikulieren mit den Händen und verzerren oft seltsam ihr Gesicht; bald lachen sie, bald klingt der Ton wieder weinerlich. Jetzt schweigen sie plötzlich. Alle blicken nach dem Fuß der alten Eibe hin. Auch die fröhlichen Knaben und Mädchen halten ein in ihren Spielen. Es herrscht auf einmal lautlose Stille.
Dort unter der Eibe erhebt sich keuchend und ächzend ein altes Weib, eine sonderbare Erscheinung. Der weit vorwärts geneigte Kopf ist mit langen, schneeweißen Haaren bedeckt, die beinahe bis zum Boden herabfallen. Die mageren braunen, runzligen Arme sind auf Stöcke gestützt. Das Gesicht ist fahl und verzogen, das Kinn springt stark vor, und die langen, weißen Augenbrauen reichen weit herab. Die Augen sind tief eingefallen und scheinen fast ganz geschlossen, so dass man sie für blind halten könnte. Über die Schultern hängt ein helles Wolfsfell. Die weiße Farbe war bei diesem Volk ein Merkmall der Auszeichnung. Es ist die alte Parre, die Urahne der hier versammelten Familie. Langsam tappte sie über den freien Platz vor der Höhle bis an den Rand, wo der steile Fels jäh ins Tal abfällt. Dort erhebt sie die Krücke in der rechten Hand gegen den Himmel nach der untergehenden Sonne. Sie murmelt eintönige Reime in melancholischen, halb singenden, halb sprechenden Tönen; wenn sie eine Reimkehr vollendet hat, fallen die Weiber und Kinder in demselben Ton ein und klatschen in die Hände. Es ist das Abendgebet an die scheidende Sonne.
Tief gebückt humpelt die Alte mit schwerem Tritt zu ihrem Sitz unter der Eibe zurück und neigt wieder ihren Kopf wie zu träumenden Sinnen tief herab.
Jetzt kommt aufs neue lebhafte Bewegung in das muntere, kleine Völkchen. Der Platz wird notdürftig gesäubert und von allen zusammen ein Kreis gebildet. Ein junger Bursche von etwa achtzehn Jahren bringt ein eigentümliches Instrument, ein Stück von einem ausgehöhlten Baumstamm, über dessen obere runde Öffnung ein enthaartes Tierfell gezogen ist. Er stellt es neben die Alte an der Eibe, kauert dahinter nieder, nimmt es zwischen die Knie und beginnt mit den Ballen der Hände in kurzem, hackendem Takt auf die Trommel zu hämmern. Hinter ihn stellt sich ein anderer Bursche mit einem noch einfacheren musikalischen Instrument. Es ist ein langer Röhrenknochen, offenbar von einem Vogelflügel, auf dem er aus Leibeskräften bläst, zwar immer denselben Ton, aber in festem Takt mit dem Trommler.
Mit einem näselnden, nur in wenigen Tönen ohne Worte sich bewegenden und sich immer wiederholenden Gesang fallen die Weiber ein, die Alte klatscht in die Hände, und der allabendliche Tanz beginnt.
Zuerst hüpft ein lustiger Junge mit wallendem Haar aus der Höhle heraus, mitten in den Kreis hinein. Es ist der Knabe mit dem Wolf. Er trägt einen Gürtel aus Tannenzweigen über seinem kurzen Pelzrock. Um seinen Kopf windet sich ein Kranz aus Efeu, und an den Ohren hinauf stehen die zwei schönen, blauen Flügel des Eichelhähers. Über seine linke Schulter hängt ein Bogen aus Schwarzdorn, in der rechten Hand hält er eine Anzahl Haselnusspfeile.
Kaum ist er im Kreis erschienen, so springt auch schon sein Wolf zu ihm herein. Der Knabe beginnt den Tanz, kurz, mit gehobenen Knien stampfend, zugleich auch Arme und Hände hoch in der Luft in entsprechender Bewegung. Er beugt sich nieder, erhebt sich wieder, er nähert sich bald diesen, blad jenen im Kreis und fuchtelt mit seinen Pfeilen vor ihren Gesichtern herum. Immer schneller wird das Stampfen, immer heftiger ertönt die Trommel; plötzlich, mit einem ungeheuren Satz, springt er über einige Mädchen, die sich scheu ducken, hinweg, aus dem Kreis hinaus. Der Wolf, der indes immer knurrend herumgegangen, läuft ihm nach.
„Bassa, Rulaman! Bassa, Rulaman!“ Das heißt „Bravo, Rulaman!“, rufen alle Kinder. Doch schon erscheinen neue Tänzer: Drei Mädchen, mit kurzen Federröckchen bekleidet, Brust und Schultern mit frischen Eichenzweigen geschmückt. Ihr langes, schwarzes Haar, auf dem Kopf mit einem Kränzchen gelb leuchtender Schlüsselblumen zusammengehalten, fällt weit herab und flattert lustig im Wind. Sie beginnen einen Reigentanz, sich an den Händen fassend, vorwärts und rückwärts hüpfend. Die beiden äußeren schwingen rote Sträuße von Seidelbast und schlagen damit neckend nach den Kindern im Kreis. Zuletzt werfen sie ihre Blumen der Alten in den Schoß und verschwinden unter den Zuschauern.
Noch einige Tänzer treten auf, da wird plötzlich das heitere Treiben durch einen schrillen Pfiff vom Tal herauf unterbrochen.