Es war bei aller zeitweilig ausgelassenen Freude ein schweres, hartes, unruhiges Leben, das Leben dieser Ureuropäer, die sich selber Aimats, das heißt „Menschen“, nannten. Wie bei den Raubtieren, so wechselten bei ihnen Hunger und Überfluss miteinander ab. Jagd und Kampf mit der Tierwelt war die bald heitere und lohnende, bald gefährliche und unersprießliche Beschäftigung der Männer. Da das Wild in der Nähe ihrer Wohnstätte natürlich selten war, manchmal auch ganz verschwand, mussten sie weite Jagdzüge unternehmen und die Buete oft tagelang mühsam nach Hause schleppen.

So kamen auch an jenem Abend die Männer der Tulkahöhle von einem fernen Jagdzug nach Hause. Von ihnen erscholl der schrille Ruf, er das Tanzen der Kinder unterbrach.

Viele Pfade führten hinab durch den Wald in das Tal: Am Nord- und Westabhang steil und gerade wie unsere Holzrutschen; ein anderer aber am Südabhang des Berges war ziemlich breit und hatte viele Windungen. Oben an seiner letzten Biegung lag eine gute Quelle, auf der Alb eine Seltenheit und daher hoch geschätzt; sie lieferte durchs ganze Jahr den Wasserbedarf, obgleich für den Notfall und für den Winter das Tropfwasser der Höhle genügen konnte. Zu dieser Quelle, die etwa fünf Minuten von der Höhle entfernt nach Süden lag, drängte sich jetzt die ganze Schar von Frauen und Kindern, die Knaben in wildem Rennen voraus.

Den breiten Fußweg herauf waren die Väter zu erwarten, wenn sie Beute brachten.

Nur die alte Parre, die Urahne, blieb ruhig vor der Höhle bei der Eibe sitzen.

Es war indes dunkel geworden. Man konnte von oben herunter die Männer nicht sehen, auch hörte man nicht ihre immer leisen Tritte. Die Frauen und Kinder oben am Brunnen verhielten sich still, denn es konnten auch Feinde sein, die sie überfielen. So sehr war dieses Naturvolk von Jugend auf beständiger Gefahren gewärtig, dass man schon die Kinder, sobald sie von der Höhle entfernt waren und vollends bei Nacht, an vorsichtiges Stillsein gewöhnte, wie der Wolf, wenn er auf Raub auszieht, seine gierig gilfenden Jungen durch Bisse zum Schweigen bringt.

So lugten die vielen dunklen Augen erwartungsvoll durch den finsteren Wald hinunter. Einer aber der Knaben, der mit dem Wolf, Rulaman, das heißt Rul, der Sohn, konnte nicht länger an sich halten; „Rulaba!“ das heißt, Rul, mein Vater, schrie er laut in die Nacht hinein, und „Rulaman!“ antwortete sofort eine Männerstimme von unten. Jetzt wussten alle, dass es die Väter waren, und nun stürmten die Knaben jubelnd die breiten Zickzackwege hinunter ihnen entgegen.

Bald waren alle oben an der Quelle. Die Männer, kräftige, gedrungene Gestalten von untersetztem Körperbau, hatten kurze Röcke aus Renntierfellen an. Dicke, schwarze Haare quollen unter der runden Pelzmütze hervor, die den Kopf bedeckte. Das gelbbraune Gesicht war bartlos. Ein besonders starker Mann, der bei seinem Volk als schön und stattlich galt, trug über den Schultern einen Kragen aus weißem Wolfspelz. Er führte Rulaman an der Hand. Es war Rul, der Häuptling der Tulkahöhle.

Nun begann ein Schreien, ein Fragen und ein Hin- und Herrennen, wie wenn zuvor abgesperrte Lämmer zu ihren Mutterschafen gelassen werden.

Fünf Tage waren die Männer draußen gewesen, auf einem Jagdzug nach Nordost, das warme Tal des Norgeflusses hinunter, bis an den Twoba-, das heißt Mammutsee, und sie kamen fast leer heim: Kein fettes junges Twoba, kein Kalb vom Urstier, nur ein Korb voll großer Hechte, ein Schwan, eine Wildgans und einige Fischotter. Dies war die ganze Ausbeute. Traurig blickten sie drein, denn sie wussten, dass die frischen Fleischvorräte zu Hause aufgezehrt waren.

Die Freude der Kinder über die Rückkehr der Väter wurde dadurch nicht getrübt. In langem Zug wanderte man vollends hinüber zur Höhle, wo die Alte kurz über den schlechten Erfolg verständigt wurde. Brummend erwiderte sie einige Worte und brach dann in ein grelles, höhnisches Gelächter aus. Sie hatte den schlechten Ausgang vorausgesagt und freute sich nun, dass sie recht behielt. Schnell wurde von den Weibern das glimmende Feuer am Eingang der Höhle zu Flammen angefacht, die Fische gebraten und ohne Sorge um die kommenden Tage verzehrt. Der Schwan und die Fischotter wurden sorgfältig abgezogen, die Eingeweide herausgenommen und dann die ganzen Tiere auf einem hohen Rost über dem Feuer dürr gemacht, ebenso die Bälge, die später mit Fett eingerieben als Kleider dienten.

Frauen und Kinder zogen sich zurück in die Höhle. Die Männer aber blieben noch lange draußen bei der alten Parre sitzen, denn wichtige Dinge hatten sie ihr mitzuteilen. Sie hatten am Twobasee merkwürdige Hütten entdeckt, neu gebaut, aber ohne Bewohner. Es waren große Blockhäuser aus behauenen Baumstämmen, wie man sie mit Feuersteinäxten nicht herstellen konnte. Auch Boote fanden sie; nicht so genannte Einbäume, die aus einem großen Baumstamm ausgehöhlt werden, sondern aus Dielen kunstreich zusammengefügte.

Ein den Tulka verwandter Aimat-Stamm, der in der Nähe des Twobasees wohnte, erzählte ihnen, dass ein Volk mit weißen Gesichtern und weichen Kleidern, aus Fellen, wie kein Tier sie hat, diese Hütten und Kähne gebaut, dass es einige Monate lang wegen der Jagd auf die Twobas am See gelebt und viele erlegt, aber nur die langen, krummen Stoßzähne mitgenommen habe. Es seien freundliche Menschen und sie hätten ihnen kleine, glänzende Ringe geschenkt. Aber sie führen schreckliche Waffen, Speere mit glänzenden, harten Spitzen, und so scharf, dass sie das dicke Fell des Twoba durchbohren. Ebenso glänzend und scharf seien ihre Pfeilspitzen, und ihre Bogen schössen doppelt so weit als die der Aimats. Sie trügen armlange, spitze, breite und prächtig glänzende Messer an der Seite, so blank, dass man sich selbst darin sehen könne wie in einem Wasserspiegel. Mit diesen Messern hauen sie mit einem Hieb einem Renntierkalb den Kopf ab. Um Bäume zu fällen, hätten sie Äxte, die nicht aus Stein seien, sondern schön und glänzend wie ihre Messer. Mit ihnen könnten sie die größten Baumstämme glatt machen oder in dünne Stücke spalten. Auch hätten sie große, zahme Tiere wie Wölfe, junge und alte und so kluge, dass sie des Nachts die Hütten bewachen und heulen, wenn ein Fremder sich nähere. Die Männer hätten versprochen, im Herbst wieder zu kommen und ihre Frauen und Kinder mitzubringen.

Dies und noch vieles andere erzählten Rul und die Männer der alten Parre. Aufmerksam und schweigend hatte sie zugehört, dann rief sie: „Wehe, wehe über uns! Das sind die weißen Kalats, die vom Aufgang der Sonne kommen! Ich kenne sie. Mein Vater ist ihnen auf einem langen Jagdzug weit nach Morgen hin begegnet. Er hat mit ihnen gejagt, und sie haben ihm zum Abschied ein glänzendes Messer aus Sonnenstein geschenkt. Aber er hasste und fürchtete sie, denn sie schlachten und essen ihre Feinde. Sie sagen, die braunen Aimats seien Kinder der Erde, die weißen Kalats aber Kinder der Sonne. Und wahrlich, die Sonne ist nahe bei ihnen und kommt aus ihrer Heimat. Ihre Haut ist weiß und leuchtet wie Schnee. Ihre Haare sind braun und wellig wie ein hüpfendes Bergwasser, und ihre großen Augen weh tut. Ihre Arme und ihre Beine sind stark und nie müde. Nie leiden die Kalats Hunger. Denn sie leben von Körnern und Pflanzen, die alle Jahre in Menge wachsen. Und in der Zeit der kurzen Tage, wenn unsere Glieder erstarren wie Eis, müssen unsere Männer die Renntiere jagen und den Urstier, aber die Männer der Kalats sitzen zu Hause am Feuer und essen und schlafen. Ihre Weiber haben zwölf Kinder und unsere nur fünf. Und ihre Messer und Beile sind aus Steinen, die die Sonne geschmolzen hat, und darum glänzen sie gelb wie die Sonne. Weh über uns, wenn sie in unser Land kommen! Sie werden unsere Kinder essen, unsere Renntiere, Pferde und Bären erlegen, wir werden Hunger leiden und ihnen als Knechte dienen müssen oder sterben!“

Es war Mitternacht geworden, eine sternlose Nacht. Düsterer Ernst brütete über den Männern vor der Tulka, deren gelbbraune Gestalten hin und wieder vom Aufflackern eines Spans im gegenüberliegenden Herdfeuer grell erleuchtet wurden. Schweigend erhoben sie sich jetzt. Einer nach dem anderen schritt leise hinein in den finsteren Raum zur Ruhe. Nur die Alte blieb draußen und hielt träumend und sorgend und murmelnd im Halbschlaf Wache. Über ihr auf einem Ast der Eibe saß der Rabe. Das Geräusch der aufbrechenden Männer hatte ihn geweckt. Er krächzte schläfrig und schüttelte raschelnd sein dunkles Gefieder. Dann wurde es still.