„Ein Farka war in dem Rudel“, so hatten die Wachen in der ersten Nacht im Turhain verkündet. Der seltene weiße Wolf oder Farka stand unter allen Jagdtieren jener Zeit, nur den ebenso seltenen Burria ausgenommen, obenan. Sein schneeweiß glänzender Pelz war die Auszeichnung des Häuptlings. Nur er und seine Söhne durften ihn tragen. Groß war der Ruhm, und für besonders glücklich galt jeder Aimat, dem es gelungen war, einen Farka zu erbeuten. Ja, wie der Töter eines Höhlenlöwen sein Leben lang mit dem ehrenvollen Beinamen „Burriamate“ Ausgezeichnet wurde, so hieß der Glückliche, der einen weißen Wolf erlegt hatte, fortan „Farkamate“.
Die Kunde von dem prächtigen Farka ließ unsere beiden Freunde Obu und Rulaman nicht schlafen. Schon drei Nächte, solange unsere Aimats auf dem Turhain lagerten, hatten sie abwechslungsweise gewacht und auf die Wölfe gelauert. Aber umsonst. Diese heulten wohl jede Nacht aus der Ferne vom Albgebirge her, aber sie wagten sich nicht näher heran.
Am Morgen des vierten Tages, als alles sich zum Aufbruch rüstete, hielten die Freunde Rat.
„Rulaman“, sagte Obu, „du hast mir treulich geholfen, meinen Bären zu töten, dir verdanke ich die schöne Ara, so helfe ich dir jetzt zu einem schönen Farkapelz. Die Wölfe warten nur, bis es hier ruhig geworden ist, und schon diese Nacht, wenn keine Feuer mehr brennen, kommen sie sicher. Wollen wir nicht zurückbleiben, wir beide allein?“
„Wir bleiben“, antwortete Rulaman sofort entschlossen. Niemand sollte um den Plan wissen, als Repo und Ara.
Ara war mit den anderen Tulkafrauen angekommen. So kurze Zeit sie erst unter den Tulkas und Huhkas verweilte, so groß war schon ihr Ansehen bei ihnen. Sofort hatte sie es übernommen, die Wunden zu verbinden, und deren gab es viele, wenn auch keine schweren. Im übrigen arbeitete sie nicht viel mit den anderen Frauen, sondern wie eine Gebieterin wandelte sie umher, ordnete hier und ordnete da und hatte für jeden ein freundliches Wort. So war sie es gewöhnt von Jugend auf schon in der Nallihöhle, und niemand wagte es, sie darob zu tadeln. Vielmehr leibten sie alle, und mit besonderem Wohlgefallen lauschten Männer und Weiber der klugen Rede der schönen Nallitochter, wie sie sie nannten, wenn sie in der Feierstunde lange, merkwürdige Geschichten erzählte, die sie von ihrem Ahn, dem alten Nargu, gehört hatte: Von der Sonne und ihrem Lauf am Himmel, von dem Mond und den Sternen und von den weißen Kalats, oder wenn sie gar berichtete, was sie selbst von den Vögeln im Wald vernommen hatte, denn sie verstand ihren Gesang und ihre Sprache, und wo immer sie sich im Wald zeigte, da flatterten sie zutraulich um sie herum, und sie fütterte sie und redete mit ihnen. Was Wunder, dass Obu stolz war auf seine Ara, doch nicht weniger stolz war diese auf ihren tapferen Jüngling.
Als Ara von dem Plan der beiden hörte, riet sie zuerst: „Lasst es genug sein.“ Als sie aber merkte, dass ihr Entschluss fest stand, da bat sie flehentlich: „Lasst mich bei euch bleiben. Ich kenne wohl die Rede: Geht der Aimat zur Jagd, bleibt zu Hause die Magd; aber“, fuhr sie stolz sich erhebend mit leuchtenden Augen fort, „bin ich nicht die Enkelin des großen, weisen Nargu? Hat er mich nicht gewöhnt, nie Furcht zu kennen? Mein Pfeil trifft so sicher wie euer Pfeil, und kein Jüngling tat es mir je zuvor im Speerwerfen.“
Rulaman hatte längst die schöne Are lieb gewonnen wie eine Schwester. Er selbst bat jetzt für sie bei Obu.
So blieben die drei zurück. Sie versteckten sich im Gebüsch, bis die anderen alle abgezogen waren. Vor Abend waren die Wölfe nicht zu erwarten. Nur langsam verstrichen unseren ungeduldigen Jägern die Stunden.
Endlich dunkelte es. Die Sonne war untergegangen. Ein schmaler, rotgelber Streif leuchtete noch am Horizont und ergoss ein blasses Licht über die unabsehbare Schneefläche.
„Jetzt auf die Bäume!“, rief Obu. Sie bestiegen drei Föhren am Rand der Waldblöße. Alle drei, auch Ara, waren bewaffnet mit Pfeilen und Wurfspeeren. Um die Tiere nicht abzuschrecken, hatten sei kein Feuer angezündet. Froh und guten Mutes sahen sie der Nacht entgegen, ja, für unsere erprobten Jäger Obu und Rulaman galt eine Wolfsjagd fast ein Vergnügen. Auch Ara freute sich, dass es ihr gelungen war, an einer ernstlichen Jagd teilzunehmen, und sie jubelte, als endlich von fern, vom Gebirge her, das ersehnte erste Geheul des Leitwolfs erscholl.
Es war sternhell. Sie hatten ihre Bäume so gut gewählt, dass sie von ihnen über die anderen Föhren hinweg weit über die Schneefläche bis ans Gebirge sehen konnten. Aber so scharf sie auslugten, noch zeigte sich nichts auf dem weiten Plan.
„Der Wind ist nicht günstig“, sagte Obu, „sie werden uns wittern, aber der Hunger wird ihnen schon Mut machen.“
Ein tiefes Gebrüll ertönte von jenseits des Norge, vom Urwald herüber. Ara schrak zusammen. Das hatte sie nie gehört. „Was war das?“, flüsterte sie.
„Ein Usonbulle“, antwortete Rulaman, „vermutlich hat er ein Raubtier gewittert, denn sonst treten sie ja immer ruhig und lautlos aus dem Wald.“
Wieder wurde es stil. Nur die gefrorenen Schilfstängel am Norge rauschten. Einige Hyänen kläfften im Röhricht aus jener Gegend, wo am Morgen die lange Karawane ihren Weg genommen hatte. Unsere Jäger beachteten sie nicht. Ihr heiseres Bellen war allen wohlbekannt.
Endlich erblickte Ara weit nach dem Gebirge zu einen dunklen Schein auf dem Schnee, der langsam sich zu bewegen schien, wie ein wandernder Wolkenschatten. Sie zeigte hinüber.
„Das sind sie“, flüsterte Obu, „wir werden wohl noch eine geraume Zeit hier oben frieren müssen, bis sie uns vor den Bogen kommen.“
Näher und näher zog sich die dunkle Wolke heran, aber kein Laut ließ sich vernehmen. Endlich sah man deutlich einzelne Formen an den Rändern.
„Das geht ja rasch!“, rief Obu lustig, „die Stalpe haben Hunger, sie trotten. Es ist ein großer Haufen. Wir werden Arbeit genug bekommen. Ara! Nur fest an den Baum geklammert! Wer hinunter fällt, ist verloren.“
Jetzt war das Rudel nur noch etwa tausend Schritt entfernt. Plötzlich stand es still. Der Leitwolf heulte grausig in die Nacht hinein. Das ganze Pack antwortete.
„Sie haben uns gewittert“, rief Rulaman.
Ara klopfte das Herz. Die Wölfe schienen unschlüssig.
„Jetzt machen sie den Jagdplan“, scherzte Obu. So war es in der Tat. Denn blad teilte sich das Rudle in drei Haufen. Während der größte von vorn in langsamem Schritt vorsichtig an das Wäldchen sich heranpirschte, trottete ein zweites Häuflein nach rechts, ein drittes links um den Hügel herum.
„Das hast du gut ausgedacht, alter Stalpe“, rief Obu, „du willst uns von vorn und von den Seiten zugleich fassen. Rulaman, es wird Ernst. Es sind ihrer wohl dreißig, fast zuviel für uns, wenn sie hungrig und dreist sind. Und was sagst du, Ara“, rief er freundlich scherzend zu ihr hinüber, „wie heißt doch die Rede? Geht der Aimat zur Jagd, bleibt zu Hause die Magd!“
In der Tat war es Ara etwas bang zumute, und sie antwortete nicht.
„Ich sehe den Farka!“, rief Rulaman freudig. „Er ist bei dem Mitteltrupp. Willst du nicht den ersten Schuss auf ihn haben? Dann wirst du Farkamate“, flüsterte er scherzend Ara zu.
Sie ärgerte sich über die Neckereien und rief stolz hinüber: „Ja, ich will, so wahr mein Ahn Nargu heißt.“
Die drei Haufen der Wölfe hatten sich indes aufgelöst. Von allen Seiten gingen die klugen Tiere einzeln gegen den Hügel vor. Alle kamen fast zu gleicher Zeit unten am Waldrand an. Im Dunkel der Föhren entschwanden sie den Blicken. Deutlich sah man überall zwischen den Bäumen da und dort die funkelnden Augen der gierigen Räuber.
„Ihr Hunger ist größer als ihre Vorsicht“, flüsterte Obu.
Kaum hatte er dies gesagt, so heulte wie auf ein Zeichen das ganze Rudel zusammen. Das klang schauerlich aus den Föhren heraus.
Ara zitterte. Auch die beiden Jünglinge schienen plötzlich an Gefahr zu denken. Beide nur um Aras willen. „Wüsste ich sie doch zu Hause!“, rief Obu zu Rulaman hinüber.
Mit einem Mal stürzten die hungrigen Tiere von allen Seiten auf das leckere Mahl in der Mitte des Hügels zu und zerrissen gierig die Haufen Eingeweide, die ihnen die Jäger zurückgelassen hatten.
„Siehst du den schönen Farka?“, flüsterte Obu, „er weiß es, dass Ara ihn treffen soll, ihr ist er am nächsten.“
Im selben Augenblick schwirrte eine Bogensehne. Ara hatte geschossen. Der Farka stürzte und wälzte sich mit Geheul am Boden.
„Bassa, Ara!“, riefen beide wie aus einem Mund.
Alle Wölfe stutzten und richteten die Köpfe in die Höhe. In ihrem Heißhunger hatten sie die Feinde, die sie ja schon von fern gewittert, vergessen. Jetzt erblickten sie sie auf den Bäumen, und Rache schnaubend heulten sie nach ihnen hinauf. Unsere Jäger verloren den Mut nicht. Auch Ara schien durch ihren glücklichen Schuss wie neu belebt, und Pfeil auf Pfeil flog von den dreien hinunter in die Reihen der Wölfe.
Ara, Obu und Rulaman im Kampf mit den Wölfen
Bald wälzten sich mehrere am Boden, und schon ergriff eine Anzahl die Flucht. Auch der weiße Farka erhob sich wieder und folgte den Fliehenden.
Da sprang Obu vom Baum herunter und, ohne auf die anderen Wölfe zu achten, mit dem Speer in der Hand dem Farka nach in den Wald hinein. Kaum war er unten, da stürzten die übrigen Wölfe Wut brüllend auf ihn los. Doch schon war Rulaman an seiner Seite, und mit einem Schrei der Verzweiflung glitt auch die mutige Ara am Baum hinunter und hinüber zu Obu.
Es war ein harter Kampf der drei gegen sechs wütende Raubtiere. Erst als zwei durchbohrt am Boden lagen, flohen die anderen. Rulaman war niedergeworfen worden. Ein Wolf hatte ihn in die Brust gebissen. Aber schnell hatte er sich wieder aufgerafft und weitergekämpft.
„Bist du verwundet?“, fragte Ara ängstlich Obu. „Etwas zerrissen an Armen und Beinen“, versetzte dieser. „Aber wo ist der Farka?“
„Er ist den anderen nach“, sagte Rulaman. „Doch wir holen ihn ein!“
Sie suchten auf der Spur der geflohenen Wölfe, und nicht weit vom Wald auf der Schneeebene entdeckten sie das verwundete Tier, das den anderen nicht hatte folgen können. Noch einmal stellte sich der Wolf wütend gegen seine Verfolger. Da stieß ihm Rulaman seinen Speer von vorn in die Brust.
Jubelnd schleppten sie die herrliche Beute nach dem Wäldchen. Dort lagen noch vier weitere getötete Wölfe. Was sie wollten, hatten sie vollauf erreicht. Alle drei waren müde vom Kampf. Rulaman blutete stark. Ara verband ihm und Obu die Wunden. Auch sei selbst hatte eine Bisswunde im Arm, und sie war stolz darauf.
Rulaman machte Feuer an und Obu briet einen Wolfsschinken. Das war ein großes Labsal für unsere hungrigen Jäger. Dann häutete er den schönen weißen Wolf ab. „Ein prächtiges Pelzlager für unsere Ara Farkamate“, meinte Rulaman. Erschöpft schliefen sei ein. Am anderen Tag bauten sie einen kleinen Schlitten und fuhren ihre kostbare Beute nach Hause.