Es war Frühjahr geworden. Der Buchfink schmetterte zum ersten Mal wieder seinen kräftigen, mutigen Schlag von der alten Eiche vor der Tulka herab, während gegenüber hoch auf der Eibe eine Amsel ihr weiches, schwermütiges Lied flötete.
So kündigte damals, so kündigt noch heute der deutsche Wald sein Wiedererwachen an. Frische Lebenslust jubelte aus der Brust jenes kleinen Sängers, dem jetzt sein Weibchen von Afrika zurückgekehrt war. Er selbst hatte den rauen deutschen Winter mit den Aimats durchgemacht; er hatte viel gehungert, viel gefroren, aber nun wollte er bald Hochzeit machen und hatte sich ein neues Kleid angetan, prangend in frischen, munteren Farben. Schön pfirsichrot war seine Brust, schwarzblau sein Köpfchen, gelb glänzend die Flügel. Er flog herunter von der Eiche auf den freien Platz vor der Höhle und hüpfte kühn und kampfesmutig einher. Das war sein Revier, seines allein. Wehe dem Nebenbuhler, der sich nur in die Nähe wagte! Es war ein alter Vogel. Er hatte seit einem Jahrzehnt hier seinen Standort; er gehörte zur Tulka, und alle kannten ihn.
Die alte Parre hörte seinen Schlag und richtete sich auf; „Sabliga“, rief sie; wollte ihn locken, wie sie so oft getan; aber ihre trockenen Lippen brachten keinen Ton mehr hervor. „Pfeife ihm, Ara!“, sagte sie zu dieser, die neben ihr unter der Eie saß.
Da ertönte ein sausendes Flügelschwirren; ein zarter, jammervoller Angstschrei, dann der grelle, wütende Kampfruf des Raben.
Der Sokol holt den Sabliga
„Was war das?“, fragte die Alte hastig.
„Ein Sokol hat den armen Sabliga geholt!“, rief Ara, „und ist fort mit ihm, hinunter ins Tal; unser braver Karga ihm nach!“
Die Alte fuhr auf: „Wie sah er aus, der Sokol?“
„Ich kenne ihn nicht“, sagte Ara, „ich sah noch nie einen solchen, er leuchtete rot in der Sonne. Er schoss daher wie ein Blitzstrahl, streifte den armen Sabliga vom Boden weg, und fort ist er mit ihm.“
Die Züge der Alten verzogen sich krampfhaft. „O Kind, das ist ein Kalatvogel!“, murmelte sie, „der gute Karga wird den Schlauen nicht mehr einholen. Er wird – –“, die zahnlosen Kiefer der Alten zitterten; sie konnte nicht weiterreden.
Ein Mädchen sprang herüber zu den beiden und brachte ein goldgelbes Federchen des Sabliga, das ihm der wilde Räuber ausgerissen hatte. Ara weinte. Die kleinen Mädchen schluchzten, und mutig toll rannten die Knaben an den Rand des Abgrunds, wo der Sokol verschwunden war. Sie hatten die Pfeile auf den kleinen Bogen und schrieen wütend hinab in das Waldtal.
„Wann kommen die Männer heim?“, fragte sorglich die Alte.
„Am Abend“, antwortete Ara, „sie fischen drüben im Nufatal.“
Am Abend kehrten die Männer zurück. Ihre Ausbeute war klein. Eine Überschwemmung, wie sie die Schneeschmelze im Gebirge oft bringt, hatte viele alte Forellenlöcher zerstört.
Weit schwerer traf die alte Parre eine andere Nachricht.
„Die Kalats sind drüben im Nufatal“, berichtete Repo. „Sie haben ein großes Lager, lange Zelte auf großen Schlitten, und die Schlitten stehen auf runden Baumscheiben. Viele Pferde und andere Tiere, die wir nie gesehen haben, weiden bei dem Lager. Sie hauen die größten Bäume und bauen sich Wohnungen daraus. Sie kamen zu uns herunter an den Bach und gaben uns diese glänzenden Stückchen aus Sonnenstein im Tausch gegen unsere Fische. Sie werden unsere Weiber erfreuen.“
„Werft sie fort“, schrie die Alte wütend. „Das sind Zauberringe! Wie viele Kalats waren es denn?“
„Fünfzig und fünfzig“, erwiderte Rulaman. „Mehr als alle Aimats zusammen, und jeder hatte einen großen zahmen Wolf, wie der Nargu. Die Wölfe heulten wütend, als sie uns sahen, und stürzten auf uns los. Aber die Kalats riefen sie zurück, und jene folgten ihren Worten wie Kinder.“
„Habt ihr Frauen und Kinder gesehen?“, fragte die Alte wieder.
„Einige Knaben ritten auf den weidenden Pferden“, sagte Rulaman, „und drei Weiber kamen an den Bach herunter, um Wasser zu schöpfen. Sie deuteten auf uns und lachten, als sie uns sahen.“
„Wie habt ihr denn die Worte der Kalats verstanden?“, fragte Ara, die dabeistand, „nur der Nargu kennt ihre Sprache, und er hat sie mich gelehrt.“
„Sie machten Zeichen mit den Händen und deuteten, was sie wollten“, antwortete Rulaman. „Ihr Häuptling, ein großer, schöner Mann in prächtigen Kleidern, zeigte nach den Bergen; er wollte wohl wissen, wo wir wohnen.“
„Wehe, wehe über uns!“, rief die Alte, „das Nufatal ist zu nahe! Sendet Boten an die Huhkas und an die Nallis! Erinnert sie an den Schwur in die Hand des toten Rul im Matetal!“ –
Wenn man vom Tulkaberg aus nach Mitternacht zu dem Armibach folgte, dann, noch ehe er sich in den Norge ergoss und nach Osten sich wandte, konnte man über einen schmalen Gebirgssattel hinübersteigen ins Nufatal, durch dessen schöne Wiesenauen der klare Stanabach sich dahinschlängelte, reich an Forellen und Krebsen. Nach Mitternacht zu lag das Tal weit offen; nach Mittag, Morgen und Abend war es in weitem Halbkreis von den schroffen Ausläufern des Albgebirges umspannt. Vor allen thronte als hehrer Wachtposten im Osten ein prächtiger Bergkegel, von dem man weit hinaus blickte in das flachhügelige Norgetal. Das war der große Nufaberg. Fast kahl ragt er heut ein die blauen Lüfte hinein; weit hinauf an seinen warmen Geländen baut ein emsiges Völklein seine Weinreben, nur die obere Hälfte deckt schöner, mannigfaltiger Laubwald. Damals aber war er vom Fuß bis zum Scheitel mit dunklem Eibenwald bedeckt.
Dieses schöne, warme Nufatal hatte sich das von Osten her vordringende Volk der Kalats zu einer Kolonie ausersehen. Woher kam dieses Volk? War es plötzlich da, wie vom Sturm hergeweht? So erschien es wohl unseren Aimats. Aber es war anders.
Wie am Meer, wenn die Flut zu ihrer festgesetzten Zeit hereinkommt, erst eine breite, niedere Welle sanft über das flache Gestade herein schwimmt, als wollte sie es nur versuchen, zaghaft die Mutter Erde zu umarmen, dann höhere und höhere Wogen folgen, bis zuletzt brausend der Ozean anstürmt, alles niederwirft und das ganze ihm gehörige Gebiet erobert, so ergoss sich, erst langsam, dann immer stärker anschwellend, damals die Völkerflut von Osten, von Asien her, über Europa.
Wie die Einwanderung der Europäer nach Amerika nun schon vier Jahrhunderte lang anhält und noch lange so fortdauern wird, bis kein rothäutiger Indianer mehr auf angestammten Boden den Büffel jagt, so dauerte wohl Jahrhunderte lang die Einwanderung der Kalats vom Osten, bis endlich alle Ureuropäer, die Aimats der Eiszeit, vertilgt oder nach den Hochgebirgen und nach Norden zurückgedrängt worden waren.
Lange, ehe unsere Geschichte auf der Alb spielte, hatten die weißen Kalats das östliche Europa, besonders die Talebene des Langen Flusses inne, jenes Flusses, den die Aimats, wenn sie an die Seen zogen, überschreiten mussten. Auch waren ja schon Nachrichten über sie zu unseren Höhlenbewohnern gedrungen, und wir wissen, dass der alte Nargu Karawanen zu ihnen sandte und mit ihnen im Tauschhandel stand.
Die Kalats trieben Viehzucht und Ackerbau. Sie hatten Haustiere, Hunde, Rinder, Schafe und Pferde, die ihre Ahnen dereinst von den Steppen Asiens mitgebracht hatten. Sie bauten Getreide, hatten also Brot, und das Brot vermehrte schnell die Anzahl der Menschen. So wuchs das Volk, und immer neues Land war nötig. Sie drängten heraus durch die Flusstäler, die natürlichen Wanderstraßen der Menschen, immer weiter von Ost nach West und endlich auch nach Süddeutschland herein.
Eine Woche war verflossen, seit die Tulkamänner die Nachricht von der Ankunft der Kalats im Nufatal nach Hause gebracht hatten. Wie einst, als die Fehde mit den Nallis ausgebrochen war, hielten seitdem jede Nacht zwei Männer vor der Höhle Wache. So hatte es die alte Parre gewollt. Auch sie selbst bleib, seit es Frühjahr geworden war, immer die ganze Nacht draußen unter der Eibe, träumend und sinnend im Halbschlaf. Oft fuhr sie mitten in der Nacht unruhig mit lautem Rufen auf, als wolle sie Männer zum Kampf ermutigen. Einmal, es war eine finstere, stürmische Nacht, schrie sie plötzlich: „Waldbrand! Ich rieche Waldbrand!“ Die Wachen, die am Feuer gelegen hatten, sprangen auf.
„Waldbrand“, das war ein Schreckensruf für die Aimats. Der harzreiche Nadelholzwald, der damals das Albgebirge zum größten Teil bedeckte, brannte zu jeder Jahreszeit leicht. Fast immer wütete das Feuer fort, oft meilenweit und tage- und wochenlang, bis ein mächtiger Regen oder die Grenze des Waldes auch ihm eine Grenze setzte. Dem Aimat galt es daher als schweres Verbrechen, den Wald anzubrennen. Wo sollte er jagen, wenn in der Umgegend seiner Höhle der Wald vernichtet war? Ja, nicht selten wurden Höhlen von ihren Bewohnern verlassen, wenn durch Zufall oder durch Feinde dies Unglück sie betroffen hatte.
„Waldbrand!“, schrieen jetzt die Wachen laut in die Höhle hinein. Bald war alles draußen auf dem Platz. Die Alte hatte zuerst den Rauch nur riechen können. Jetzt sah man schon deutlich nach Mitternacht und Morgen hin eine helle Röte weithin am Himmel. Eine dunkelgelbe Flamme schoss in der Mitte der Röte empor wie eine Riesenfackel.
„Es ist der Nufaberg!“, rief Repo, „er brennt. Die Kalats haben die alten Eiben angezündet. Was wollen sie? Wollen sie den Ihren in der Ferne ein Zeichen geben, damit noch mehr kommen?
Die Alte schüttelte den Kopf. „Ich kenne das; die Kalats bauen ihren Häuptlingen Steinhöhlen auf den Bergen. Von dort sehen diese hinunter ins Tal, wo ihr Volk arbeitet, und herrschen über dasselbe. Die Schlauen haben gut gewählt. Vom Nufaberg aus werden sie uns alle unterjochen. Wie geht der Sturm?“, fragte sie dann.
„Gerade aus Mitternacht“, antwortete Repo.
„So kann das Feuer bis morgen bei uns sein“, sagte die Alte. „Lasst mich noch einmal die alten Zaubersprüche versuchen, ob ich den furchtbaren Brand beschwöre.“
Sie ließ sich von zwei Männern an den Rand des Abgrunds tragen. Dort erhob sie ihre Krücken gegen das Feuer und schrie laute, befehlende, drohende Worte in Nacht und Sturm hinein. Sie wurde nicht müde, wohl eine halbe Stunde lang. Und in der Tat, allmählich legte sich der Sturm. Dichter Regen rauschte herab. Die Flamme des Nufaberges sank niedriger und niedriger, sie verschwand und mit ihr die breite Röte am Himmel. Ein dicker, qualmiger Rauch legte sich über die Erde.
Laut auf lachte die Alte und jubelte höhnisch: „Also noch meistert der Aimatzauber das Kalatfeuer!“
Sofort sandte man Obu mit einem anderen Mann nach dem Nufa hin auf Kundschaft aus. Es wurde Morgen und Mittag. Die Boten kamen nicht zurück. Endlich ertönte das bekannte Zeichen von unten am Berg. Rulaman und Ara gingen ihnen entgegen hinüber nach der Quelle. Sonderbare Tritte, wie von schweren Tieren, ertönten den Zickzackweg herauf. Bald sahen sie einige Männer in bunten Gewändern, auf Pferden sitzend, hinter ihnen einen großen Tross von Kriegern mit funkelnden Waffen, und vor dem Zug her die Tulkaboten. Offenbar waren die Fremden Kalatkrieger.
Rulaman und Ara gingen eilend zurück zur Tulka, Nachricht zu bringen. Bald folgte ihnen der fremde Zug. Ruhig und stolz, den weißen Wolfspelz um die Schultern, empfing Repo, mitten auf dem Platz vor der Höhle stehend, die Ankömmlinge, ihm zur Seite Rulaman, hinter ihm seine Männer, alle mit Steinbeilen bewaffnet.
Hoch zu Ross saß der Kalathäuptling. Er war angetan mit einem schönen blau und roten Rock. Eine bunte Mütze mit Federbusch bedeckte den Kopf. Lange, lockige Haare wallten ihm über die Schultern. Er trug glänzende Ringe an Armen und Beinen, eine schwere, strahlende Kette um den Hals und ein blinkendes Schwert in der Rechten. Neben ihm hielt ein zweiter Reiter, barhäuptig, mit langem Silberhaar, in weitem, schneeweißem Gewand bis auf die Füße herunter, einen breiten, goldbestickten Ledergurt um die Lenden und einen goldenen Stab in der Hand. Hinter ihnen standen wohl dreißig Männer zu Fuß in dünnen, blauen Röcken mit Ledergürteln, alle gleich, fast ärmlich gekleidet, jedoch gut bewaffnet mit funkelnden Schwertern und Lanzen.
Gulloch mit dem Druiden vor der Tulkahöhle
Die Kalats blickten freundlich, heiter und neugierig drein und schienen nichts Schlimmes im Schild zu führen. Seltsamerweise waren Obu und dem anderen Tulkamann, die als Führer dem Zug vorangingen, die Hände auf den Rücken gebunden.
„Was wollt ihr?“, redete Repo trotzig den Reiter an, „warum habt ihr unseren Leuten die Hände gebunden?“
Der Kalat schüttelte lächelnd den Kopf, er verstand die Frage nicht. Da trat Ara entschlossen vor und wiederholte, so gut sie es vermochte, Repos Worte in der Kalatsprache. Freundlich und mit wohlwollendem Lächeln bot ihr der Reiter die Hand, die sie aber nicht nahm, denn sie war ergrimmt über die Schmach, die ihrem Obu angetan worden war.
„Sei ruhig, schönes Mädchen, wir kommen im Frieden! Fern sei es, dass wir euch Schaden brächten. Ich möchte mit eurem Häuptling reden, ihn bitten, dass er mit mir jagt, dass seine Leute uns helfen und meine Leute ihm. Auch diesen beiden“, dabei deutete er auf Obu und seinen Begleiter, „wollten wir kein Leid antun. Sie sollten uns nur zu euch führen, aber sie wollten nicht oder verstanden uns nicht. Aber wie kommst du, herrliches Mädchen, in die Höhle dieser Wilden? Bist du nicht eine Kalattochter? Woher kennst du unsere Sprache?“
Ohne zu antworten, wandte sich Ara um und wiederholte Repo die Worte des Kalat in der Aimatsprache.
Indes hatte Repo ohne weiteres die Handfesseln Obus und seines Bruders durchschnitten. Als Ara geendet hatte, fragte er Obu selbst über den Hergang.
Sie seien im Nufatal plötzlich von den zahmen Kalatwölfen umringt worden, berichtete dieser, die sie wütend angebellt hätten. Die Kalats seien herbeigekommen und hätten sie vor den Häuptling geführt. Dieser habe ihnen zu essen gegeben und ein braunes Wasser zum Trinken, das vom Kopf bis zum Fuß wärme. Dann habe er durch Zeichen verlangt, sie sollten ihn nach ihrer Höhle führen. Dies hätten sie verweigert und seien fortgerannt. Wieder hätten sie die Wölfe eingeholt, und nun habe man ihnen die Hände auf den Rücken gebunden. Bald seien der Häuptling und der alte weiße Mann auf Pferde gestiegen. Krieger seien erschienen, und nun habe man ihnen unter Drohungen mit einem Dolch bedeutet, den Weg nach ihrer Höhle zu zeigen. „Was sollten wir tun?“, fuhr Obu fort, „ließen wir uns töten, so fanden sie doch die Tulka bald genug. Oder sollten wir sie irreführen im Wald, dann zürnten sie uns und euch umso mehr. ‚Wir tun euch und den Eurigen nichts Böses’, so versicherten sie uns wiederholt mit ihren Zeichen, wir glaubten es halb und führten sie hierher.“
„Ihr habt recht getan“, sagte Repo und wandte sich an den fremden Häuptling: „Wenn ihr unsere Freunde sein wollt, warum bandet ihr unsere Brüder? Der Aimat ist arm und hat nichts als die Kraft seiner Arme und Beine. Aber diese müssen frei sein! Nie hat ein Aimat Fesseln getragen. Frei geht er durch seine Wälder. Keiner ist der Herr des anderen, nur im Krieg und auf der Jagd befiehlt der Häuptling; nur wann er will, gehorcht der Aimat.“
Wieder verdolmetschte Ara die Worte Repos. Dieser erwartete einen Zornesausbruch des Kalat. Aber ohne zu antworten, stieg er vom Pferd, rief einem der Krieger, der einen Korb trug, nahm daraus zwei glänzende Kupferspangen, trat hin zu Obu und steckte ihm eine an den Arm, die andere gab er seinem Gefährten. Dann trat er vor Repo, zog einen prächtigen Dolch aus seinem Gürtel und reichte ihm diesen mit den Worten: „Du sprichst wie ein Held und wie ein Kalathäuptling. Du bist es wert, zu herrschen. Wir müssen Freunde werden.“
Repo zögerte. Plötzlich entschlossen, nahm er den Dolch und reichte dagegen dem Fremden seinen eigenen, einfachen, aus Bein geformten. Freundlich dankte der Kalat, während Repo sprach: „Die du hier siehst, sind meine Brüder und Vettern. Alle sind wie ich, und wenn du mich einen Helden nennst, so sind sie es auch. Lass uns frei in unseren Wäldern. Wir tun euch kein Leid, wofern ihr uns nicht angreift. Aber lass uns eine Grenze machen zwischen hier und dem Nufatal. Kein Aimat und kein Kalat soll sie überschreiten!“
Bei diesen Worten erscholl von der Alten, von der Eibe herüber, ein höhnisches Gelächter. Der Kalat sah hinüber und erschrak über diesen Anblick. Dann, sich wieder an Repo wendend, sagte er: „Nicht also, mein Freund, wir brauchen Leute, die der Gegend kundig sind, beim Jagen; ich habe viele Jünglinge und ihr habt viele Mädchen. Wir wollen ein Volk machen. Eure Töchter werden glücklich sein und nie mehr Hunger leiden.“
„Unsere Zahl ist gering“, sagte Repo, „und der wilde Wolf und der zahme können nicht zusammen leben.“
„Wo sind die anderen Höhlen?“, fragte der Kalat, „haben sie mehr Volk als ihr?“
„Ich werde ihnen von euch berichten“, antwortete Repo ausweichend, „und mit ihren Häuptlingen von deinem Wunsch reden.“
Jetzt fiel der Blick des Kalats auf den prächtigen Turkopf, der hoch über dem Eingang der Höhle befestigt war. „Wo gibt es diese Tiere?“, fragte er.
„Weit von hier in einem großen Wald. Es sind wilde, gefährliche Tiere“, sagte Repo.
„Willst du mich nicht dahin führen, dass wir zusammen jagen?“
„Niemand wagt sich im Sommer in jenen Wald“, antwortete Repo.
„Der Kalat jagt das ganze Jahr hindurch!“, lachte der Fremde, „Er hat Hunde und Pferde.“ Freundlich bittend fuhr er fort: „Gib mir den Turkopf als Pfand der Freundschaft. Die beiden Hörner sollen zwei prächtige Trinkhörner werden, das eine für dich, für ich das andere. Wie ist dein Name?“
„Repo“, erwiderte dieser.
„Ich heiße Gulloch“, sagte der Kalat. Wieder winkte er dem Mann mit dem Korb, nahm eine prächtige, glänzende Halskette heraus und hing sie Repo um. Je freundlicher der Kalat und je freigebiger, umso verschlossener wurde der Aimat. Doch, war es Gutmütigkeit oder war es Klugheit, er nahm die Kette an, ließ den Turkopf herunterholen und gab ihn dem Kalat.
Jetzt fiel der junge Rulaman im weißen Wolfspelz dem Häuptling in die Augen. „Ist dies ein Knabe oder ein Mann?“, fragte er Repo, „warum trägt er schon Männerwaffen?“
„Ein Mann“, antwortete Repo, „er ist Häuptlingssohn und wird Häuptling werden und hat schon als Knabe mit Löwen gekämpft.“
Freundlich ging der Kalat auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand und hing auch ihm eine Ehrenkette um den Hals. „Auch ich“, sagte er warm, „habe einen Sohn zu Hause in deinem Alter. Komm zu uns und sieh ihn. Ihr sollt Freunde werden.“
Nun streifte der Kalat einen gold funkelnden Ring von seinem Finger, trat auf Ara zu, ergriff sie bei der Hand und wollte ihr den Ring an den Finger stecken. „Wie ist dein Name?“, fragte er, zärtlich ihr ins Auge blickend.
„Ara“, antwortete sie stolz, „dort steht der Mann, dem ich angehören werde“, und damit trat sie zu Obu hinüber. Der Ring fiel zu Boden. Der Kalat warf Obu einen feindlichen Blick zu, aber schnell fasste er sich wieder. „Es wird Abend“, sagte er, „wir reiten heim. Kommt bald zu uns herüber ins Nufatal.“
Schweigend hatte bis dahin der zweite Reiter, der Greis im langen, weißen Gewand, der Unterredung zugehört. Es war ein Druide. Kein Wort war seinem lauschenden Ohr, kein Blick, keine Miene der Aimats seinem forschenden Auge entgangen. Jetzt richtete er sich hoch auf im Sattel, erhob die Rechte mit dem Goldstab und langsam und feierlich, mit hohl tönender Stimme, reif er den Aimats zu: „Seid keine Toren! Unsere Götter haben uns den Weg gezeigt in euer Land und uns befohlen: Wohnet hier! Und wir werden hier bleiben. Sied ihr uns Freunde, so werdet ihr mit uns arbeiten, mit uns essen, mit uns den Göttern opfern. Seid ihr uns aber Feinde, so werden unsere Götter euch zürnen und eure Männer im Donner treffen und eure Weiber und Kinder werden unsere Sklaven sein.“
Als Ara auch diese Worte des Druiden verdolmetschte, da richtete sich die alte Parre auf und schrie: „Nun, ihr Aimats, habt ihr jetzt die Wahrheit gehört? Aber fürchtet euch nicht vor ihren Göttern. Hat nicht das alte Aimatweib das Kalatfeuer niedergeschlagen?“ Und damit brach sie in ihr höhnisches Gelächter aus.
Der Druide verstand zwar ihre Worte nicht, aber er merkte wohl ihren Sinn. Ohne weiter darauf zu achten, wandte er sein Tier um. Währenddes hatte auch der Häuptling sein Pferd wieder bestiegen. Sie ritten weg. Repo und Rulaman begleiteten sie bis zur Quelle. Dort nahm Gulloch freundlichen Abschied, der Druide aber blieb kalt und teilnahmslos.