Schon nahte der Seemonat heran. Die Tulkas dachten an ihre alljährliche Wanderung. Aber es lag eine dumpfe, schwüle Stimmung über ihnen, und besonders die alte Parre, die sonst immer den Tag des Aufbruchs lange vorher bestimmte, schien dieses Mal unschlüssig und wenig geneigt zu der weiten Reise.
Da erschienen eines Tages zwei Kalatboten vor der Höhle, deren jeder ein schönes Pferd führte, prächtig mit Sattel und Zaum geschmückt. An einem der Sättel hing an funkelnder Kette ein Trinkhorn, über und über mit glänzenden Reifchen verziert, der Rand mit einem breiten, strahlenden Erzring eingefasst.
Einer der Boten meldete: „Dies ist das Turhorn von meinem Herrn, dem edlen Gulloch, für den großen Häuptling der Tulkahöhle. Er wird Jagd halten droben auf der Kadde-Ebene, wann zum zwölften Male die Sonne aufgegangen. Er sendet hier Pferde für den Häuptling und den Häuptlingssohn und hofft, dass sie und alle Tulkamänner an der Jagd teilnehmen.“
Repo ließ die Boten freundlich bewirten. Nach kurzem Besinnen versprach er, mit den Seinigen zu kommen.
Wie groß war die kindliche Freude unserer Tulkaleute, als sie die schönen Pferde vor ihrer Höhle hatten und sie mit aller Muße streicheln und liebkosen konnten. Sie holten ihnen Gras, Blätter, und was sie nur glaubten, dass den gutmütigen Tieren munden würde. Plötzlich aber sträubten diese die Mähnen und schnaubten furchtsam. Der zahme Tulkabär war neugierig herangetrollt und wollte die fremden Tiere beschnuppern. Doch schon versetzte ihm eines der Pferde einen derben Hufschlag auf seine zottigen Flanken, und heulend und brummend flüchtete er in die Höhle hinein. Laut jubelte darob die ganze Gesellschaft.
Noch am selben Tag versuchten Repo und Rulaman auf der breiten Wiese oben über der Tulka, wo sonst die Knaben ihre Spiele trieben, die Pferde zu reiten. Es gelang ihnen trefflich. In einer Woche schon waren diese an tägliche Leibesübung gewohnten Jäger gewandte Reiter. Mit nie gekannter Lust, so als hätte er Flügel bekommen, stürmte Rulaman in sausendem Rennen über die Hochfläche dahin. Die anderen Tulkas, die ihren Übungen zusahen, jauchzten vor Freude, wenn die beiden über die Wiese dahinflogen, die weißen Wolfspelze wie Silbermöwen hinter ihnen im Winde flatternd.
Am zwölften Tag trafen, wie verabredet, die Tulkas mit den Kalats auf der Kadde-Ebene zur Jagd zusammen.
Es war ein großartiger Jagdzug, der dort an der Waldecke ihrer wartete. Staunend blickten unsere Aimats auf die vielen bunten, glänzend bewaffneten Jäger zu Pferde und auf die Menge von Treibern zu Fuß, die große zottige Hunde an Riemen führten. Auch viele Nallis und Huhkas waren unter diesen. Aber weder der Angekko noch der alte Nargu waren erschienen, obgleich der Kalathäuptling auch ihnen Pferde gesandt hatte.
Zwei der Kalatreiter sprengten, sobald sie unserer Tulkas ansichtig wurden, auf diese zu. Munter wieherten die Tulkapferde ihren Kameraden entgegen. Ritterlich und freundlich begrüßten die beiden Kalats unsere rauen Albjäger. Es waren Gulloch und sein Sohn Kando.
Einfacher als sonst, aber doch stattlich genug, war heute ihre Kleidung: Ein grünes Wams, knapp anliegende Lederbeinkleider und Jagdstiefel, eine Pelzmütze mit einem Vogelflügel am Rand, sonst kein Schmuck, und als Waffen nur ein kurzes Schwert am Ledergurt und eine Lanze mit leuchtender Kupferspitze, der schwarze Schaft mit Erzringen hübsch verziert.
Repo und Rulaman trugen ihre gewohnten Renntierkleider. Die Fellmützen mit den Bärenhaarbüschelchen und die prächtigen weißen Wolfspelze, leichthin über die linke Schulter geworfen, kleideten die wilden, Wetter gebräunten Söhne des Gebirges so gut, dass sie dem stolzen Kalatfürsten wohl ebenbürtig nahen konnten. Freilich, ihre Waffen waren nicht mehr die alten Aimatwaffen. Statt der beinernen Spitze leuchtete jetzt auch an ihren Lanzen eine lange Spitze aus Metall, die sie von den Kalats ertauscht hatten, und kupferne Schwerter blinkten auch ihnen an der Seite. Nur seinen guten, alten Eibenbogen hatte Rulaman nicht missen mögen. Auch heute, wie sonst, wenn er zur Jagd ging, hing ihm dieser nebst einem wohl gefüllten Köcher über die Schulter.
Kando, ein schmucker, schöner Jüngling mit langem, braunem Lockenhaar, ritt sofort an Rulamans Seite und schüttelte ihm treuherzig die Hand. Auch Rulaman schlug das Herz freudig, als er in das offene Antlitz des jungen Weißen blickte. Wie schade, dass er ein Kalat ist, dachte er.
Gulloch machte, so gut er es vermochte, seinem Gast den Jagdplan begreiflich. Seine Jäger hatten ausgekundschaftet, dass eine Herde Kadde über Tag an einem Waldrand lag, wo man sie leicht zu umstellen hoffen konnte. Er gab Repo die Richtung an, und bald erkannte dieser, dass es der Wald war, wo einst der Burria das wilde Pferd zerrissen hatte. Repo teilte dies Gulloch mit. Der stutzte einen Augenblick, denn die Kalats waren nicht gewöhnt, mit Löwen zu kämpfen. Repo aber tröstete ihn lächelnd: „Es ist der letzte Burria gewesen, und dies hier ist einer seiner Zähne.“ Dabei wies er auf den an seiner Brust hängenden Fangzahn des Höhlenlöwen.
Staunend betrachtete Gulloch den furchtbaren Hauer und sagte: „Ein herrlicher Schmuck, eine fürstliche Zier.“
„Darum trägt ihn der Burriamate“, versetzte Repo stolz.
Es war ein prächtiger, frischer Sommermorgen. Die Sonne war groß und rot glühend über dem dunklen Wald aufgetaucht; ein leichter, rötlich grauer Ton schwebte wie ein Schleier über der Erde. Er weite Rasen glänzte von Tauperlen, und würzige Gebirgslust kräftigte und reizte Herz und Sinn der Männer. Alles bebte vor Jagdlust. Die Jäger riefen, befahlen, die Pferde stampften, die Hunde zerrten vorwärts an den Leinen. Auf einen Wink des Häuptlings ertönte ein Hornzeichen, ein ungewohnter Ton für unsere Tulkas. In wunderbarer Ordnung setzte sich der lange Zug in Bewegung, die Treiber mit den Hunden voraus.
„Wohin wollt ihr die Kadde treiben?“, fragte Repo, der neben Gulloch ritt.
„Wir jagen sie nach dem Nufa hin“, antwortete Gulloch, „bis hinaus auf die schroffen Felsabhänge am Rande des Gebirges; dort müssen sie uns stehen, und wir stechen leicht die ganze Herde mit den Lanzen nieder.“
„Kennt ihr die Kadde?“, fragte Repo zurück, „sie stellen sich gern zur Wehr, wenn man sie in die Enge treibt, und eben haben sie noch dazu Junge und zwiefachen Mut.“
„Ich habe noch nie eure Kadde gejagt, aber wir sitzen ja zu Pferde“, lachte der Kalat, „unsere Hunde werden sei schon zu fassen wissen, wenn sie Kampfeslust verspüren sollten.“
„Werden eure Pferde standhalten“, fragte Repo wieder, „wenn die Kadde mit ihren furchtbaren Geweihen sie anrennen?“
„Unsere Pferde halten stand in der Männerschlacht, wenn Reiter gegen Reiter mit der Lanze anstürmt und die Schwerter klirren.“ –
„Was willst du mit dem Bogen?“, fragte Kando Rulaman.
„Wir tragen Bogen und Pfeile als Kinder schon, und nie verlasse ich die Höhle ohne sie.“
„Gut für Vögel“, sagte Kando.
„Auch für Löwen“, antwortete Rulaman.
„Mit der Beinspitze?“, fragte Kando lächelnd.
„Mit der Beinspitze“, erwiderte Rulaman. „Mein Ohm dort hat mit einem solchen Pfeil den letzten Burria in dem Wald dort oben erschossen.“
„Und du warst dabei?“, fragte Kando.
„Es war mein erster Jagdgang“, antwortete Rulaman, „und ich kam dem Burria so nah, wie jetzt dir. Dieser mächtige Hauer an meinem Hals stammt von ihm.“
Kando maß ihn von Kopf zu Fuß. Rulaman wurde größer in seinen Augen. „Bei uns tun die Hunde alles“, sagte er ärgerlich, „sie zerren das Wild an den Boden, und der Jäger sticht es dann nieder.“
„So hat nicht jeder eurer Männer seinen Bären erbeutet, ehe er Mann wurde?“, fragte Rulaman.
„Seinen Bären erbeutet?“, wiederholte Kando fragend, „wir hetzen auch die Bären mit Hunden zu Tode. Willst du mich mitnehmen zur Bärenjagd zu Fuß und ohne Hunde?“
„Und wenn du umkämest“, erwiderte Rulaman, „würde mir dein Vater nicht zürnen?“
„Denkst du, die Kalats seien mutloser als die Aimats?“
„Ihr habt die Gefahr und den Tierkampf nicht nötig“, sagte Rulaman, „der Aimat aber lebt davon.“
„Ich wünschte, ich wäre ein Aimat und könnte mit euch in Höhlen wohnen und wild durch die Wälder streifen und mit Löwen und Bären kämpfen“, reif Kando in mutiger Erregung.
Rulaman sah ihn mit leuchtenden Augen an.
Einige Stunden waren die Reiter hinter den Treibern mit den Hunden geritten, als Gulloch wieder ein Zeichen mit dem Horn geben ließ. Jetzt trennte sich der Zug. Die Fußgänger mit der Meute gingen in der Richtung nach Morgen weiter, während die Reiter sich links abwandten nach einem Wald hin, der in weiter Ferne nach Mitternacht zu sichtbar wurde.
„Wir wollen jetzt gerade zum Nufawald reiten“, sagte Gulloch. „Die Treiber und die Hunde können allein den Umweg machen.“ Darauf fuhr er lustig fort:
„Bald werden sie uns die Kaddeherde dort hinüberjagen. Dann lassen wird ei Hunde los, und Reiter und Hunde jagen hinterdrein, dass die Erde zittert. Hurra, Trara, Trara!“ Und er schnalzte mit den Fingern.
Treibjagd der Kalats in ihrer Heimat
„Welche Tiere habt ihr denn in euerer Heimat so gejagt?“, fragte Repo ruhig.
„Wir haben große Kadde, stolz und mutig, mit runden, spitzen Geweihen. Aber sie leben nicht in Rudeln, und so jagten wir stets nur ein Tier.“
„Fünfzig Reiter und fünfzig Hunde auf eine arme Kadde?“, lächelte Repo.
„Wir jagen nicht um des Fleisches willen, sondern uns zur Lust. Zur Nahrung haben wir Brot.“
„Und das Brot macht ihr aus Graskörnern? Wird euer Volk nicht schwach und mutlos von dem Gras?“
„Wir brauen auch Kum aus Pferdemilch. Der gibt immer Mut, wo es Not tut.“
„Wie habt ihr die Pferde so zahm gemacht und die Hunde?“
„Das haben schon unsere Ahnen getan vor langer Zeit. Wir haben auch Bus, zahme Kadde mit kurzen Hörnern. Von ihrer Milch leben unsere Weiber und Kinder. Wann wirst du endlich nach dem Nufatal kommen, das alles zu sehen?“
„Wirst du mir dort zeigen, wie man den Sonnenstein macht?“
„Wenn du mein Freund sein wirst.“
Jetzt ging es in munterem Trab quer über die Ebene.
„Warum dröhnt der Boden so sonderbar unter uns?“, fragte Gulloch.
„Wir reiten über der Walbahöhle.“
„Wo ist die Walbahöhle?“
„Überall unter diesen Bergen. Dort wohnen die Geister unserer Toten.“
„Habt ihr sie gesehen?“, fragte Gulloch lächelnd.
„Ich werde sie sehen an dem Tag, wo die Sonne mich zum letzten Mal küsst“, sagte Repo ernst.
„Wer sagte euch das?“
„Ich weiß es.“
„Die Geister der Kalats wohnen droben auf der Sonne“, sagte Gulloch.
„Wer sagt euch das?“
„Unsere Druiden.“
„Es ist gut so“, sagte Repo, „so wird nach dem Tode kein Hader sein zwischen uns und euch.“
„Warum wollt ihr nicht Kalats werden und unseren Druiden glauben, die alles wissen?“
„Weil wir Aimats sind“, antwortete Repo stolz.
Endlich waren sie an dem dichten, schwarzen Nufawald angelangt, der den Rand des Gebirges nach Mitternacht, nach dem Nufaberg umsäumte. Rechts vom Wald, etwas nach Morgen, streckte sich eine lange waldlose Landzunge weit hinaus, schmäler und schmäler werdend, bis an die schroff ins Tal abstürzenden Burafelsen.
„Dort hinaus jagen wir die Kadde“, sagte Gulloch, „und was unseren Speeren entrinnt, wird den Sprung ins Tal machen müssen. Ein flotter Sprung! Schade, dass unser alter Druide nicht hier ist, den Spaß mit anzusehen.“
Repo biss sich auf die Lippen, schwieg aber still.
Jetzt gab Gulloch ein Zeichen. Der Reiterzug heilt an. Man stieg ab. Die Pferde wurden zusammengekoppelt.
„Wir wollen uns lagern und uns an einem Jagdimbiss stärken. Es wird Stunden dauern, bis die Kadde kommen“, meinte Gulloch.
Jäger brachten Käse und Brot. Auch das Turhorn kam, bis zum Rand mit Kum gefüllt. Gulloch reichte es Repo, indem er sprach: „Wie schön es ist, dass wir heute das Horn auf der Jagd einweihen.“
„Ein scharfer Trank“, sagte Repo, indem er das Horn zurückgab, „ich liebe ihn nicht.“
„So wirst du nie ein Kalat“, versetzte Gulloch.
„Ich hoffe es“, sagte Repo. –
„Es wird langweilig“, rief Kando Rulaman zu, „schießen wir um die Wette! Du mit dem Pfeil, ich mit dem Speer.“ Und schon rief er einem Jäger zu: „Halt mir deine Mütze als Ziel!“
Gehorsam heilt der Mann seine Mütze hinaus, den Arm weit ausgereckt. Kandos Speer flog. Ein Schrei – der Speer war dem Jäger mitten durch die Hand gegangen.
„Ein schlechter Schuss, der zweite soll besser sein“, sagte Kando verdrießlich.
Rulaman war schon nach dem verwundeten Kalat hingeeilt. Behutsam und mitleidig zog er den Speer aus der Wunde. Umstehende Jäger lachten. Kando kam heran:
„Rulaman, der Schuss ist an dir!“, rief er und befahl einem anderen Jäger, seine Mütze zu halten als Ziel für den Kameraden. Strafend blickte ihn dieser an: „Der Aimat schießt nicht auf Menschen, außer im Krieg.“
Kando lächelte verlegen. Rulaman nahm Wundpulver aus seiner Ledertasche, streute es dem Mann auf und verband die Wunde mit Farnkräutern.
Jetzt erst richtete er sich auf, nahm seine eigene Fellmütze, warf sie hoch hinauf, legte rasch den Pfeil auf seinen Bogen, die Sehe schwirrte; die Mütze war getroffen, die beinerne Spitze hatte sie mitten durchbohrt.
„Ein Fürstenschuss!“, rief Gulloch, der auf das Spiel der Jünglinge aufmerksam geworden war. Kando aber schoss nicht zum zweiten Mal.
Repo saß sinnend neben Gulloch. Stunden waren vergangen, Mittag war vorüber. „Ich fürchte, unsere Treiber haben fehl getrieben. Dann sollen sie der Strafe nicht entgehen“, sagte Gulloch ärgerlich.
Repo blickte erstaunt auf. „Ist es wahr, dass ihr eure Leute mit Ruten züchtigt?“, fragte er.
„Ohne Hiebe – keine Triebe, keine Lust zur Arbeit“, erwiderte Gulloch.
„Und sie schlagen euch nicht tot?“
„Mich tot? Mein ist die Gewalt über Leben und Tod; mein allein!“, rief Gulloch leidenschaftlich. „Ich lasse töten, wen ich will.“
„Ein Glück für dich, dass du über keine Tulkamänner herrschst.“
Gulloch erhob stolz den Kopf und begann: „Tulkamänner“ – aber er fuhr nicht fort und unterdrückte gewaltsam, was er sagen wollte.
Auch Repo wollte die gefährliche Unterhaltung nicht fortsetzen. Er wusste genug und lenkte ab. „Mich wundert nicht, dass die Kadde noch nicht da sind“, sagte er. „Es war ein weiter Weg für die Jäger zu Fuß, und die Kadde sind schlau und machen Ränke“, und er legte wieder, wie er immer von Zeit zu Zeit getan, das Ohr an den Boden, um zu horchen.
Plötzlich sprang er auf und rief laut: „Die Kadde kommen!“
Rasch saß alles zu Pferde. Die Reiter suchten sich am Waldrand zu verbergen, damit die Renntiere sie nicht von ferne sehen und umwenden konnten.
Alles harrte in gespannter Erwartung, auch die Pferde schienen zu wissen, dass das Rennen begann. Sie bissen in die Zügel, schnaubten und schäumten, schüttelten die Köpfe hinauf, hinab und scharrten die Erde vor Lust.
Endlich sah man, weit nach Abend hin, eine graue Staubwolke. Sie kam näher und näher, wurde breiter und breiter. Jetzt hörte man deutlich ein Dröhnen, dann ein Stampfen, sonderbar, wie in bestimmten Takt.
Da kamen sie. Aber den Zug eröffneten nicht Renntiere, sondern eine Herde von etwa zwanzig wilden Pferden, die wohl unterwegs aufgescheucht worden waren. Hinter ihnen drein stürmten an die hundert Renntiere in rasendem Lauf, die Geweihe weit zurückgeworfen in den Nacken, die Nüstern hoch in der Luft, mit Schaum bedeckt, schnaubend und keuchend. Eine gute Strecke hinter ihnen raste die Meute der zottigen Jagdhunde mit unterdrücktem, heiserem Gebell.
Jetzt war das wilde Heer an den Reitern im Gehölz vorüber. Ein Hornzeichen ertönte; sie stürmten nach und in wenigen Minuten war die ganze Strecke fast bis zum Burafelsen zurückgelegt. Dort, nahe dem äußersten Rand, machten die wilden Pferde und die Renntiere plötzlich halt. Noch waren die Hunde nicht bei ihnen. Das arme, gehetzte Wild rannte am Abgrund hin und her in grässliche Verzweiflung. Eine Anzahl wilder Pferde war, von den nachfolgenden gedrängt, über die hohe Felsenwand hinabgestürzt.
Pferdejagd
Da plötzlich, es war im letzten Augenblick, denn die Hunde waren bereits hart an ihnen, machten die verfolgten Tiere kehrt, wandten Stirn und Geweih dem Feind entgegen, und in wütendem Todesmut durchbrachen sie die Kette der Hunde und rasten gerade auf die Reiter los.
„Macht eine Gasse!“, schrie Repo und riss sein Pferd zur Seite. Es war zu spät. Die Landzunge war zu schmal. Reiter und Renntiere und Pferde prallten zusammen. Die Pferde bäumten sich; viele überschlugen sich. Die Reiter lagen am Boden, ehe sie nur daran denken konnten, mit der Lanze zum Stoß auszuholen.
Im Nu war das Ganze ein lebendiger Haufen in regelloser Bewegung, ein unentwirrbarer Knäul von Renntieren, zahmen und wilden Pferden, Hunden und Jägern, und das alles zusammen bellend, pustend, röchelnd, schreien.
Aber dies dauerte nur einige Augenblicke, dann erhoben sich erst einzeln, dann in immer größerer Zahl, die prächtigen Geweihe der flüchtigen Renntiere. Sie und die wilden Pferde arbeiteten sich zuerst heraus und nach wenigen Minuten waren sie verschwunden, alle zurück in eiliger Flucht nach der sicheren Heimat, nach der weiten Kadde-Ebene hin. Auch einige Kalatpferde waren samt Sattel und Zeug mit den wilden davongerannt.
Am Platz sah man jetzt nur noch zahme Pferde ohne Reiter, Hunde und Jäger, die meisnten am Boden, die anderen toll durcheinander rennend. Nur einige Renntiere, die bei dem ersten Anprall den Hals gebrochen hatten, oder junge, die von den Hunden niedergerissen worden waren, das war die ganze Ausbeute der ersten Kalatjagd auf der Alb.
Das Blutbad, das die Kadde dagegen angerichtet hatten, war kein geringes. Über ein Dutzend Jäger und wohl ebensoviel Pferde und Hunde lagen zertreten oder, von den Renntiergeweihen gespießt, tot oder schwer verwundet am Boden. Andere hatten Arme und Beine gebrochen.
Auch Gulloch, Repo und Rulaman waren von den Pferden gestürzt. Dem stolzen Kalatfürsten war es schlimm ergangen. Sein edles Ross, ein prächtiger Rapphengst, war von einem mächtigen Renntierhirsch von vorn durchbohrt zusammengebrochen, er selbst nach vorwärts, weit über das Renntier weg, in gewaltigem Flug hinausgeschossen, zu Boden gestürzt und betäubt liegen geblieben.
Repo, der sein Pferd vor dem Zusammenstoß nach rechts herüber gerissen hatte, war samt dem Tier auf die Seite geworfen worden, unter dieses gefallen und so vor weiterer Verwundung geschützt.
Rulamans Pferd hatte sich gebäumt und rücklings überschlagen. Er selbst war glücklich zur Seite abgesprungen und blieb wie sein Tier unversehrt.
Nur wenige Jäger saßen noch zu Pferde, unter ihnen Kando, der, ein trefflicher Reiter, schon beim ersten Anprall mit einem kühnen, gewagten Sprung über die erste, geschlossene Reihe des Wilds hinweggesetzt und sich so aus der allgemeinen Neiderlage gerettet hatte. Aber er war vor Schrecken so gelähmt, dass er starr, wie teilnahmslos, auf die Szene blickte.
Repo und Rulaman waren unter den ersten, die wieder aufrecht standen. Sie sahen Kando. Sie suchten Gulloch. Sie fanden ihn. Er schien tot. Sie richteten ihn auf, rieben seine Schläfe.
Kando sprengte heran, angstvoll bekümmert um seinen Vater. Jetzt schlug Gulloch die Augen auf und blickte lange verwundert um sich. Endlich wurde ihm alles klar; er knirschte mit den Zähnen vor Schmerz und vor Wut. Er tobte und wetterte über seine Jäger, über die schlechten Hunde, über das freche Albwild, das ihm zuliebe den schönen Todessprung über die Felsen nicht hatte machen wollen.
Auch eine heitere Szene sollte zum Schluss nicht fehlen. Einige Kalatjäger, die unverwundet geblieben waren, machten sich an das halbtot daliegende Wild. Einer hatte sich rittlings auf ein großes, am Boden liegendes Renntier gesetzt, um ihm bequem mit seinem Dolch den Genickfang zu geben. Plötzlich erhob sich das Tier, das offenbar nur von dem Anprall betäubt gewesen war, und jagte samt dem laut schreienden Jäger auf und davon, dem Kaddefeld zu, seinen Kameraden nach, hinter ihm her eine Anzahl wütender Hunde. Ein schlimmer Ritt! Absitzen war wohl schwer und der voraussichtliche Empfang bei der Kaddeherde für den Jäger kein beneidenswerter.
„Nach Hause!“, schrie Gulloch zornig, ohne sich weiter um seine vielen Toten und schwer verwundeten Leute zu kümmern. Mit Mühe hob man ihn auf ein Pferd. Repo und Rulaman wollten ihn nicht verlassen. Repo stütze ihn von der einen, Rulaman und Kando abwechselnd von der anderen Seite, und so geleiteten sie ihn heim ins Nufatal.
Erst gegen Mitternacht kamen auch unsere Tulkajäger wieder in der Höhle an.