Etwa eine Woche seit der Kalatjagd war vorüber, als Repo und Rulaman den versprochenen Besuch im Nufatal auszuführen beschlossen. Es schien ihnen Pflicht, nach dem verwundeten Häuptling zu sehen, und besonders hatten sie auch Hoffnung, bei einem persönlichen Zusammentreffen etwas von Ara zu erfahren, wenn sie wirklich, wie die alte Parre bestimmt glaubte, von den Kalats geraubt worden war.

Sie machten den Weg nicht zu Pferde, sondern in alt gewohnter Weise zu Fuß. Es widerstrebte ihrem Stolz, auf den Kalattieren in das Kalatdorf hineinzureiten. Als Geschenk für Gulloch nahm Repo sein schönstes Bärenfell, Rulaman für Kando einen Eibenbogen mit.

„Ihr wollt allein gehen?“, fragte die alte Parre. „Leicht könnten sie euch fangen; denkt an Ara.“

„Glaubt ihr, wir lassen uns einsperren wie ein Mädchen?“, antwortete Repo und reckte sein Steinbeil in die Luft, „das möchte Gulloch leicht das Leben kosten und dem Druiden auch, und diese beiden lieben das Leben und fürchten den Tod, denn ihr Leben ist süß und leicht.“

Sie gingen. Als sie auf der kahlen Berghalde über dem Nufatal angekommen waren, heilten sie an. Dort stand eine einsame Eiche mit einem alten Aimatgrab darunter, wie der große Steinhügel bezeugte, der da aufgetürmt war. Sie legten der Sitte gemäß ihre Steine dazu und setzten sich auf das Grab. Von hier aus konnten sie die ganze Kalatkolonie mit einem Blick überschauen.

Es waren etwa hundert kleine Häuschen mit spitzen Dächern, die in einer Linie am Bach standen. Über jedem sah man Rauchwölkchen vom Kamin aufsteigen. Abwärts am Bach fiel ihnen ein großes, langes, viereckiges Feld in die Augen, mit hohem, gelbgrünem Gras, das zumal in der Sonne scharf von den angrenzenden Wiesen abstach. Rings um dasselbe in regelmäßigen Abständen waren Obstbäume gepflanzt. Es war das erste Getreidefeld, das unsere Aimats sahen. Jetzt freilich war es noch grün.


Der Nufaberg

Auch am jenseitigen Bachufer, nach dem Nufaberg hin, bot sich ihnen ein ebenso liebliches als neues Bild dar: Eine Menge Pferde und andere Haustiere in bunter Mannigfaltigkeit der Farben und Größe, friedlich weidend, von Hunden und Hirten bewacht. Dort stand auch auf einem Hügel, der schon zum Fuß des Nufaberges gehörte, ein größeres Holzhaus, vermutlich das Haus des Häuptlings, mit einigen kleinen Nebengebäuden. Hoch oben von der Kuppe des Nufaberges blinkte die weiße Ringmauer der Kalatfeste herunter, an der ihre Landsleute, die Huhkas und Nallis, so eifrig mitarbeiteten. Ein schmaler, aber ebener und guter Weg führte in gerader Linie an dem Ackerfeld hin, dann den Häusern entlang, von ihnen aus hinüber nach der Viehweide und endlich in langen Zickzacklinien am Nufaberg hinauf zur Burg.

Emsiges Leben bewegte sich auf dem Burgweg: Eine Menge Menschen, Männer, Weiber und Kinder, alle, wie es schien, eifrig beschäftigt. Was unsere beiden Tulkas vor allem in Verwunderung setzte, waren jene großen Schlitten, die mit mächtigen Steinen beladen, auf hohen runden Holzscheiben von Pferden rasch dahin gezogen wurden.

„Kennst du das Nufatal noch und den Nufaberg?“, fragte Repo, „wie konnten die Kalats dies alles fertig bringen in so kurzer Zeit?“

„Es sind ihrer viele“, sagte Rulaman, „und alle tun, was einer will. Unter den Aimats aber tut jeder, was ihm gut dünkt.“

„Ohne Pferde hätten sie das nie leisten können,“ meinte Repo. „Du siehst, die Pferde verrichten die schwerste Arbeit.“

„Es deucht mir noch wunderbarer“, erwiderte Rulaman, „dass die Pferde die Arbeit willig tun, die ihnen doch beschwerlich ist.“

Darauf sagte Repo: „Du kennst ja Gullochs Rede. Sie werden wohl auch die Pferde mit Schlägen zur Arbeit zwingen. Oder ziehen diese vielleicht nur gegen ihren Willen, indem sie beständig weglaufen wollen und so die Last mitschleppen?“

„Aber das Pferd, das ich reite“, sagte Rulaman, „wiehert und lacht vor Freude, wenn es mich sieht, und wenn ich ihm den Zaum auflege. Glaubst du nicht, dass sie die Pferde und Hunde und alle ihre Haustiere durch Liebe gezähmt haben? Aber warum hat jeder Kalat seine eigene Wohnung? Warum wohnen sie nicht zusammen wie wir?“

„Weil einer den anderen neidet“, erwiderte Repo, „hast du nicht gesehen auf der Jagd, wie sie lachten über die Schmerzen ihres Bruders? Auch hörte ich von den Huhkas, die Kalats entwendeten einander Nahrung, Kleider und Ketten und Ringe aus Sonnenstein.“

„Hätten die Aimats den die Augen bezaubernden Sonnenstein, ich fürchte, auch sie würden anfangen, einander zu bestehlen“, sagte Rulaman.

Sie stiegen vollends hinunter ins Tal. Am Eingang des Dorfes sprangen ihnen einige Hunde bellend entgegen, wohl durch die auffallenden weißen Wolfspelze gereizt. Sie geleiteten sie knurrend.

Vor dem ersten Häuschen saß auf einem Steinblock ein alter Kalat in schweren Holzschuhen.

„Willst du uns zu eurem Häuptling führen?“, fragte Repo.

Der Alte sah sie einen Augenblick staunend an; dann, ohne ein Wort zu erwidern, fuhr er fort in seiner Arbeit. Es war ein Töpfer. Vor ihm schnurrte eine kreisrunde Scheibe. Mit Leichtigkeit bildeten sich unter seinen geschickten Händen die zierlichsten Töpfe, große und kleine Schüsseln und Schalen, von denen eine Reihe neben ihm in der Sonne trocknete.

Mit Lust sah Rulaman dem einfachen, ärmlich gekleideten, alten Kalat zu, wie er jetzt in einen der Töpfe mit Holzstäbchen regelmäßige eckige und runde Linien eingrub und diese dann mit Kohlenpulver schwärzte, so dass die Verzierungen prächtig schwarz aus dem roten Ton hervortraten.

„Hast du das alles heute schon gemacht?“, fragte er. Dachte er an die Zeit und die Mühe, die es die Aimats kostete, ihre dicken, groben Gefäße zu bilden?

Der Alte gab keine Antwort.

„Seine Ohren sind taub“, sagte Repo, „gehen wir weiter.“

Einige kleine Kinder kamen auf sie zu und blickten neugierig ihre weißen Wolfspelze an.

„Wollt ihr uns zu eurem Häuptling Gulloch führen?“, fragte Repo.

Die Kinder zeigten hinauf nach dem Holzhaus auf dem Hügel und gingen gefällig voraus, ein hübscher Knabe mit braunen Locken und zwei kleine Mädchen in blauen Röckchen.

„Wo sind denn eure Eltern?“, fragte Rulaman.

„Sie arbeiten auf dem Berg dort oben“, antwortete der Knabe; „es ist heute Frontag.“

Vor einem der nächsten Häuschen saßen einige alte Frauen, emsig mit Flachs- und Wollespinnen beschäftigt. Auch diese Kunst war unseren Aimats neu. Mit großer Aufmerksamkeit beobachtete Rulaman, wie der Faden aus dem Flachs herausgezogen, mit dem Mund genetzt, dann an der Spindel gedreht und so gefestigt wurde.

„Also daraus machen sie ihre weichen Kleider!“, rief er in der Aimatsprache Repo zu und setzte freudig hinzu: „Das müssen unsere Weiber auch lernen.“

„Ist unnötig“, meinte Repo, „im Wald taugt das Fellkleid besser. Hast du nicht gesehen, wie zerfetzt Gullochs Kleid auf der Kaddejagd war? Unsere Renntierfelle sind heil geblieben.“

Jetzt führen die Kinder sie links ab zwischen zwei Häuschen hindurch, nach der großen Wiese hin, wo das Vieh weidete. Ein schmaler Fußweg ging von hier hinauf zum Herrenhaus.

Die weidenden Tiere richteten ihre Köpfe auf und starrten verwundert die Aimats in ihren fremden Kleidern an. Nicht weniger erstaunt blicken Repo und Rulaman auf die vielen zahmen Kühe, Schafe, Ziegen und Schweine, die ihnen alle noch neu waren.

„Dort sind zahme Turkühe“, sagte Repo.

„Sie haben aber schlechtere Hörner“, meinte Rulaman, „oder hat man sie ihnen abgehauen? Wie heißt ihr die kleinen, die weißen?“, fragte er den Knaben, indem er auf die Schafe zeigte.

„Luban“, sagte der Knabe, und schon hatte er mit einem Sprung eines ergriffen und ihm etwas Wolle ausgerissen. Er zeigte sie Rulaman und bedeutete ihm, dass daraus die Weiber im Dorf den Faden gesponnen hatten.

„Macht ihr eure Kleider denn nicht aus Gras?“, fragte er den Jungen. Der Knabe nickte und deutete auf seine Kleider und die Röckchen der Mädchen; diese seien aus Gras, aber die Kleider derer im Herrenhaus oben, und dabei deutete er hinauf, seien vom Luban.

Jetzt ging es einen kleinen Abhang hinauf zum Haus Gullochs. Die Kinder wendeten hier furchtsam um, nach dem Dorf zu. Um das Haus lungerten eine Anzahl Männer, alle gleich gekleidet und bewaffnet, offenbar die Leibwache, die Gulloch einst vor die Tulka begleitet hatte, denn einer derselben kam sofort freundlich auf sie zu.

„Ihr wollt zu dem edlen Gulloch“, sagte er, „ich werde euch anmelden.“ Er ging hinein.

Es verfloss einige Zeit. Unsere Tulkas betrachteten mit Staunen das große Haus, dessen ganzes Holzgerüst, in allen seinen sonderbaren Linien und Winkeln rot angestrichen, deutlich hervortrat, während die mit Mauer ausgefüllten Zwischenräume mit gelber Lehmfarbe übertüncht waren. Das spitze Dach war offenbar nur für den Notbehelf aus Brettern hergestellt, das ganze Gebäude mit einer Mauer in regelmäßigem Viereck umgeben. Die Lage hatte der Kalatfürst trefflich gewählt; von hier aus konnte er sein ganzes Dorf übersehen und zugleich die Steige auf den Nufaberg hinauf.

Gulloch erschien unter der Haustür, empfing sie aufs freundlichste und führte sie hinein.

Alles am Haus war unseren Besuchern neu und wunderbar, schon die geraden, regelmäßigen Wände, dann die merkwürdige, in Angeln und Bändern sich bewegende Türe mit dem Metallriegel, der von Gulloch hinter ihnen geschlossen wurde; dann die Treppen aus dünn gehauenen Baumstämmen, der glatte Fußboden, die hübsch bunt bemalten Holzwände des Zimmers und die ebenso verzierte Decke, endlich die regelrecht viereckigen Fensteröffnungen und Läden.

„Ein schlechtes Haus, worin ich euch empfange“, sagte der Kalatfürst, „droben auf dem Nufaberg soll mir ein schöneres erstehen.“

Repo und Rulaman waren zu stolz, um ihr Staunen zu verraten über das Neue, das sie sahen, obgleich zumal Rulaman vor Begierde brannte, zu erfahren, wie all dies hergestellt worden war.

Sie übergaben ihre Geschenke. Der Kalat dankte.

„Bist du wieder gesund?“, begann Repo ruhig.

„Es war nichts“, sagte Gulloch, obgleich er noch sehr blass aussah, „nur ein Druck auf die Brust, wohl ein Tritt von einer eurer verwünschten Kadde. Warum habt ihr mir nichts gesagt, dass die feigen Tiere umkehren würden am Rande des Felsens?“

„Sagte ich dir nicht, dass sie in Todesgefahr sich stellen?“, erwiderte Repo.

„Schade für mein schönes Ross“, sagte Gulloch ärgerlich, „hätte lieber zehn Jäger mehr verloren.“ Dann, zu Rulaman gewendet: „Kando ist auf der Jagd, auf der Vogeljagd mit Bogen und Pfeil. Lasse alle Vögel schießen. Fressen unser Korn. Liebe ihr ewiges Gezwitscher nicht. Stört nur die Leute in der Arbeit.

Einige prächtige Kupferwaffen, die an der Wand hingen, zogen die Aufmerksamkeit der beiden Tulkas auf sich.

„Wollt ihr mein Prachtgemach sehen?“, fragte Gulloch und führte sie in ein kleines Nebenzimmer, wo die Wände mit Schwertern, Dolchen, Gürteln und Schilden bedeckt waren, wo auf einem Tisch die prächtigsten Schalen und Urnen aus Kupferblech standen, auf einem anderen verschiedenerlei Kupferschmuck lag: Diademe, Spangen, Ringe, Doppelscheiben als Armschmuck, Brustplatten, Haar- und Gewandnadeln in wunderbarer Mannigfaltigkeit.

Rulamans Augen ergötzten sich an den schönen Formen, Repo aber fragte trocken: „Willst du uns heute zeigen, wie man den Sonnenstein bearbeitet?“

Dieser Wunsch war dem Kalat unbequem, er antwortete ausweichend: „Zuerst muss ich euch doch bewirten.“

Er pfiff. Einige Mädchen erschienen, ohne zu grüßen, offenbar Dienerinnen. Sie trugen schöne, bunt gewirkte Röcke und Jacken, eine dicke wollene Schnur mit Quaste als Gürtel, glänzende Kupferspangen an Hand- und Fußgelenken; die braunen, welligen Haarflechten mit einem Kupferpfeil aufgenestelt. Die eine brachte flache Brotkuchen auf einer schön rot und schwarz bemalten Tonplatte, die andere setzte einen hohen, ebenso bemalten Topf mit Milch und drei funkelnde Metallbecher auf den breiten Holztisch, der in der Mitte stand.

„Hier ist Milch von den Bus, die ihr wohl drunten auf der Weide gesehen habt. Ihr habt sicher noch keine getrunken.“

„Ist besser als euer Kum“, sagte Repo, nachdem er gekostet hatte.

„Besonders für Weiber und Kinder“, meinte Gulloch lachend. „Ich ziehe den Kum vor und euer Nargu von der Nallihöhle auch, wie ich merke. Er lässt sich jede Woche zwei Renntiermagen voll bringen, als Lohn für die Arbeit seiner Leute. Ein braver Mann, der Nargu, könnte ein Kalat sein; ist ein anderer als der Angekko in der Huhkahöhle“, und dabei lachte er laut auf. „Dieser war auch bei mir, wollte meine Jäger heilen, aber unser Druide hat ihn schlimm heimgeschickt.

„Die Tulkas und die Huhkas sind Vettern“, sagte Repo bitter, „und der Angekko hat schon viele geheilt.“

„Wohl nur Aimats“, meinte Gulloch; „die Haut der Kalats ist zu zart für seine Mittel.“

Ein junges Mädchen erschien jetzt unter der Türe, schlank, fein, zierlich und prächtig gekleidet. Gulloch stellte ihr die Fremden vor:

„Welda, das sind Tulkahäuptlinge. Das ist der Jüngling, von dem dir Kando erzählte, der schon als Knabe mit Löwen gekämpft hat.“

Rulaman war verlegen über diese Lobeserhebung.

„Ist dieses schöne Kind deine Tochter?“, fragte Repo. „So denke ich mir meine Rutha in der Walbahöhle.“

„Sie und Kando sind meine einzigen Kinder“, antwortete Gulloch.

Wie ein überirdisches Wesen musste Welda unseren Aimats erscheinen, das feine, weiße Mädchen mit der blühenden Gesichtsfarbe, den braunen, in ein Goldnetz gefassten Locken und dem roten Tuchkleid mit goldenem Gürtel und mit leuchtender Bernsteinkette um den Hals.

Unwillkürlich dachten Repo und Rulaman an Ara.

„Wo ist ihre Mutter?“, fragte Repo.

„Ich habe sie begraben auf der Reise, am Ufer des Langen Flusses“, sagte Gulloch ernst. „Sie war eines Königs Tochter, schön wie die Sonne und weise wie ein Druide. Der Nargu sagte mir, dass auch in der Tulka eine Frau sei, die alles wisse.“

„Es ist unsere Urahne“, sagte Repo, „und wir verehren sie, wie ihr den Druiden. Aber wir haben die verloren, die nächst ihr das Licht unserer Höhle war. Auch du hast sie bei uns gesehen, die schöne Ara. Sie ist verschwunden.“ Und dabei sah er fest und fragend dem Fürsten in die Augen.

Über das Gesicht Gullochs verbreitete sich eine plötzliche Röte, aber nur einen Augenblick. Dann antwortete er anscheinend gleichgültig: „Die Nallis, die auf dem Nufa arbeiten, haben mir davon erzählt. Der Nargu sei untröstlich über den Verlust seiner Enkeltochter. Die Arme wird wohl ein Wolf zerrissen haben.“

„Unsere alte Parre, die alles weiß“, versetzte Repo, „sagt, ein Mann habe sie geraubt.“ Und wieder blickte er Gulloch durchdringend ins Gesicht.

Dieser verzog keine Miene und sagte: „Schade um das schöne Mädchen.“ Damit er hob er sich und fragte: „Wollt ihr nunmehr meine Festung auf dem Nufaberg sehen und wie die Leute arbeiten?“ Ohne auf Antwort zu warten, ging er voraus.

Sie wanderten nach der Steige hinüber, Welda neben ihrem Vater her. Nicht weit vom Herrenhaus entfernt stand links oben, noch näher am Wald, wieder ein kleines Haus, aber ohne Fensteröffnungen, auch dieses mit einem rohen Steinwall umgeben, vor der Tür zwei Wachen.

„Wer wohnt dort oben?“, fragte Repo.

„Ist ein Gefängnis für Leute, die mir nicht gehorchen wollen“, sagte Gulloch leichthin.

Rulaman blickte Repo bedeutsam an, nahm schnell den Bogen von der Schulter, legte einen Pfeil auf, reif mit lauter Stimme: „Sokol! Sokol!“ und schoss nach der Hütte zu. Der Pfeil drang durch die Spitze des Bretterdachs ein und blieb stecken.

„Was machst du da?“, fragte Welda erstaunt.

„Ein Sokol flog dort“, sagte Rulaman, „ein roter Falke, der uns neulich den Sabliga vor der Tulka raubte.“

Wirklich sah man einen Raubvogel in der Nähe auffliegen und im nahen Wald verschwinden.

Gulloch blickte finster drein und schritt rasch vorwärts.

„Ich hasse die Falken“, sagte Welda, „schade, dass du ihn gefehlt. Eben dort am Häuschen singt jeden Abend ein schwarzer Vogel sein lieblich Lied.“

Bald darauf kamen sie an einem frisch aufgeworfenen Erdhügel vorüber. „Hier liegen meine armen Jäger von der Kaddejagd“, sagte Gulloch. Er öffnete eine Tür und ließ sie in ein kellerartiges Steingewölbe hineinsehen, in dessen Hintergrund eine Reihe Urnen stand, neben ihnen einige Waffen, weiter eine Anzahl anderer Tongefäße, die offen und mit Milch gefüllt waren. Auch Brotkuchen lagen am Boden.

„Sind sie hier in der Erde begraben?“, fragte Repo.

„Ihre Asche ist in jenen Tongefäßen aufbewahrt“, antwortete Gulloch.

„So verbrennt ihr eure Toten?“, fragte Repo wieder.

„Das Feuer macht die Seele des Kalats frei“, erwiderte Gulloch, „und gibt ihr Flügel, dass sie wandern kann, wohin sie will, in Tiere oder Menschen. Die armen Jägerseelen werden wohl jetzt schon als Hunde jagen.“

„So kommen sie nicht auf die Sonne?“, fragte Repo.

„Nur die Seelen der Häuptlinge und der Druiden gelangen auf die Sonne“, antwortete Gulloch, „und ihre besten Pferde und Hunde.“

Staunend hörten Repo und Rulaman ihm zu.

„Meinem Rappen habe ich droben auf der Kadde-Ebene ein steinernes Denkmal gesetzt, so groß wie einem Fürsten. Ich wünschte, die Kadde möchten sich die Köpfe dran einrennen. Habe schon einen anderen Plan für sie ersonnen.“

Der Fußweg mündete in die breite Zickzacksteige ein, die auf die Burg hinaufführte. Hier arbeiten viele Leute; die Frauen am Weg, indem sie Steine zerschlugen, die Männer fuhren auf Karren und Wagen mit Pferden Sand und Steine hinauf zur Burg.

Ehrerbietig verneigten sich alle vor Gulloch und Welda. Gulloch beachtete sie kaum und schritt schweigend vorüber, Welda aber nickte ihnen freundlich zu. Ein kleines Mädchen kam heran und küsste den Saum ihres Kleides. Welda strich ihr liebreich über die Stirn und sagte freundlich: „Was tust du hier, Arpa?“

„Meine Mutter ist krank; so brachte ich dem Vater Milch und Brot.“

„Wer ist zu Hause bei deiner kranken Mutter?“

„Niemand“, antwortete das Mädchen.

Welda wandte sich bittend an ihren Vater: „Gib dem Mann Urlaub nach Hause, Vater!“

„Der Mann bleibt bis zum Abend“, antwortete dieser rau, „sonst werden alle Weiber krank.“

„Ich will mit dir zu deiner kranken Mutter gehen“, sagte Welda freundlich zu dem Kind und nahm Abschied vom Vater und den Fremden.

Rulaman sah sie mit leuchtenden Augen an und wollte ihr eben die Hand reichen und ihr zeigen, wie ihr Edelmut ihn gefreut, aber schon hüpfte sie leicht wie ein Reh mit dem Kind an der Hand die Halde hinunter.

„Welda ist mit den Leuten zu gut“, meinte Gulloch, „spricht zuviel mit ihnen. Schweigen ist das Geheimnis des Herrschens.“

Ein Wagen begegnete ihnen, der den Berg herunterkam. Rulaman blickte bewundernd die Pferde an, wie sie mit Aufbietung aller Kräfte den Wagen anhielten, dass er nicht ins Rollen kam. Freundlich klopfte er einem der Tiere auf den Hals, dann fragte er Gulloch mit einem Blick auf die Räder: „Wodurch sind eure Leute so geschickt, das alles so kunstreich zu machen?“

„Unsere Ahnen haben das schon gekonnt“, sagte Gulloch, „und einer lehrte es den anderen bis auf den heutigen Tag.“

„Kann denn jedermann bei euch das alles tun?“, fragte Rulaman wieder, „die Wagen machen und den Sonnenstein bearbeiten und Häuser bauen?“

„Jeder betreibt sein Handwerk“, erwiderte Gulloch, „der Sohn sieht es vom Vater. Ich habe einen Töpfer, der seit sechzig Jahren jeden Tag vor seiner Scheibe sitzt; er versteht sonst nichts, aber seine Töpfe sind so schön, dass ich viele an andere Kalatfürsten verkaufe. Droben auf dem Nufa werdet ihr meinen alten Kupferschmied sehen, der seine Lebtage nur Kupfer gegossen und geschmiedet hat.“

„Bei uns kann jeder alles“, sagte Repo.

„Aber es ist wenig“, meinte Gulloch.

„Genug für ein tapferes Jägervolk“, versetzte jener.

„Arbeiten denn eure Männer für euch und nicht für sich selbst?“, fragte Repo.

„Vier Tage in der Woche sind mein, sind Frontage“, sagte Gulloch, „zwei gehören den Leuten und einer den Göttern, dem Tanz und der Freude.“

„Aber warum folgen dir denn die Leute und schaffen für dich?“

„Die Götter haben mir die Gewalt gegeben, das wissen sie. Der Urahne meines Stammes war selbst ein Gott. Der Druide wird es euch bezeugen.“

„Und sind deine Leute glücklich und zufrieden dabei?“

„Bald feiern wir das Fest Belens, des Sonnengottes“, sagte Gulloch, „wenn der Tag am längsten ist, und der Sonnenwagen am höchsten steigt am Himmel. Dann kommt zu uns; auch der Angekko und der Nargu werden kommen, und ihr werdet sehen, dass mein Volk glücklich ist. Aber darf ich euch fragen, ist denn euer Volk glücklich bei Hunger und Frost neun Monde im Jahr?“

„Was heißt Glück?“, versetzte Repo. „Wer ist besser daran, euer gehorsamer Hund oder unser hungriger Wolf?“

„Der gehorsame Hund“, meinte Gulloch, „denn er liebt und wird geliebt.“

„Der hungrige Wolf“, sagte Repo, „denn er ist frei und fürchtet niemand.“

Sie waren oben angekommen auf der Kuppe des Nufaberges. Wieder bot sich hier unseren Aimats ein überraschender Anblick dar. Wohl an hundert Menschen arbeiten eifrigst auf dem schmalen Raum zusammen. Zunächst fiel ihnen die Ringmauer in die Augen. Eben wurde dort ein neues Stück fertig. Sie war fast mannshoch und so breit, als ein Mann klaftern kann. Sie bestand aus großen, roh behauenen Quadersteinen, fest geschichtet und ineinandergekeilt ohne Mörtel, nur durch eingerammte eichene Holzpfähle zusammengehalten.

„Wozu diese Steinhaufen?“, fragte Repo.

„Zum Schutz gegen den Feind“, sagte Gulloch, „doch lasst uns jetzt in die Burggewölbe hinabsteigen. Sie sind fertig und zum Empfang bereit.“

Er ging voran, eine Steintreppe hinunter, und führte sie durch einige mit Baumstämmen bedachte Steinkammern. Schachtlöcher in der Decke spendeten notdürftig Licht.

„Eine gute, bequeme Höhle“, meinte Rulaman, „wer wird hier wohnen?“

„Die Gefangenen“, entgegnete Gulloch.

„Wer sind die Gefangenen?“, fragte Repo.

„Alle, die mir nicht gehorchen wollen.“

„Also damit zwingst du deine Leute?“

„Nicht die Schlimmsten“, erwiderte Gulloch, „nur die Widerspenstigen und auch die im Krieg Gefangenen. Für die, welche mich hassen, habe ich eine andere Höhle hier unten.“ Er führte sie in dem letzten Keller an eine schmale, nur wenige Fuß hohe Mauer und ließ sie hinunterblicken in einen tiefen, finsteren, grauenvollen Schacht. Keine Treppe führte hier hinab. Ein Haspel hing über dem finsteren Loch mit einem endlos langen Seil.

„Das ist die Wohnung für meine Feinde“, sagte er trotzig, nahm einen Stein und warf ihn hinab. Es dauerte lange, lange, bis der Stein unten auffiel. Hohl und dumpf klang der Ton herauf.

„Und du lässt die Leute da unten verhungern?“, fragte Repo.

„Das wäre zu leicht für sie“, lacht der Kalat, „sie erhalten täglich Wasser und Brot.“

„Ist einer unten?“, fragte Rulaman entsetzt.

„Noch keiner“, antwortete Gulloch, „aber ich glaube, ich kenne den, der es zuerst bewohnen wird. – Doch es ist dumpf hier, steigen wir hinauf ans Licht.“

Oben über dem Gewölbe war ein weites Viereck, durch Grundmauern bezeichnet. „Auf diese wird das Herrenhaus gebaut“, erklärte Gulloch seinen Gästen, „es wird Jahre dauern, bis ich damit zu Ende komme. Es soll hoch und fest genug werden, dass kein Feind mich überraschen kann.“

Jetzt trat er hinaus, nach dem Wald zu, hinter einen Felsenvorsprung, wo dicker Rauch aufstieg. Dort sah man eine in den Boden gemauerte Esse voll glühender Kohlen. Ein alter Mann, fast nackt, mit weißen Haaren und weißem Bart, blickte aufmerksam, ohne auf die Eintretenden zu achten, in ein tiefes Becken hinein, das in der Glut steckte. Eine rotflüssige Masse brodelte darin. Einige Handlanger standen ihm zur Seite.

„Wir kommen eben recht zum Guss“, sagte Gulloch.

Der Alte ergriff einen langen Metalllöffel, schöpfte und goss den roten Fluss in einen rundlichen Steinklotz, der oben mit einem Loch zum Eingießen des flüssigen Metalls versehen und mit einem Drahtring umwunden war.

Endlich sollten unsere Aimats sehen, wie man Waffen aus Sonnenstein gießt. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten sie das seltsame Treiben.

Der Alte murmelte eine Zeitlang unverständliche Worte, wohl um die Zeit zu messen, bis der Guss erkaltet wäre. Dann löste er den Drahtring ab und steckte einen Meißel in eine Längsfuge am Steinklotz. Sofort teilte sich dieser in zwei gleiche Hälften und heraus fiel ein prächtig glänzendes Kupferbeil. Deutlich war in jeder der beiden Hälften es Steines die Hälfte eines Beiles ausgehauen, und der Draht hatte nur dazu gedient, die beiden Teile der Form zusammenzuhalten.

Gulloch nahm eine Zange, fasste das neue Beil und zeigte es seinen Gästen. „Das ist ein Kelt“, sprach er mit Nachdruck, „und danach nennt sich unser Volk seit uralter Zeit, denn mit dem Kelt erobert der Kalat die Welt.“


Bronzegießerei auf dem Nufaberg

Der alte Schmied grinste vergnügt dazu. Er sah wohl, dass die Fremden seine Arbeit bewunderten.

„Woher habt ihr den Stein, aus dem ihr dies macht?“, fragte Rulaman.

„Das weiß nur ich und der Alte, und es wäre sein Tod, wenn er es verriete“, entgegnete Gulloch. Dann zeigte er ihnen einen großen Vorrat von Beilen, Hauen, Ringen, halbfertig, rau und noch mit den Gussnähten.

„Und wo macht ihr eure Schwerter?“, fragte Repo.

„Sie werden zuerst hier gegossen und dann mit dem Hammer geschmiedet.“

Damit trat er in eine große Hütte, wo beständig Leute mit Erdhauen und Äxten ab und zu gingen. Hier knieten einige Männer am Boden, jeder vor einem flachen Sandstein, auf dem sie unter Zugießen von Wasser die hauen und die Beile schärften.

„Schleif mir mein Schwert“, sagte Gulloch zu einem der Männer und reichte dasselbe hin. Der Mann erhob sich. Ein kreisrunder Stein auf einem Gestell stand in der Ecke. Ein Junge drehte ihn rasch an einem Handgriff. Der Mann hielt das Schwert daran, dass die Funken sprühten.

Freudig rief Rulaman: „So können wir auch unsere Steinbeile schärfen!“

Gulloch nahm das geschärfte Schwert, ergriff ein dickes Seil und hieb es mit einem leichten Streich entzwei.

Repo hatte alles schweigend mit angesehen. „Die Nacht bricht herein“, sagte er, „und es ist nicht gut, wenn der Aimathäuptling in der Höhle fehlt.“

„So gehen wir hinunter in mein Haus“, entgegnete Gulloch, „und ihr nehmt etwas Käse und Kum zur Stärkung auf den Heimweg.“

„Wir gehen leichter oben auf der Ebene“, sagte Repo und bot Gulloch die Hand zum Abschied.

„Wie ihr wollt“, versetzte dieser etwas mürrisch, holte noch zwei neue Kelte aus der Gießhütte und schenkte sie ihnen. „In zwanzig Tagen also, zum Sonnenfest, sehen wir uns wieder.“

Die beiden Aimats wanderten in Gedanken versunken am Rand des Gebirges der Heimat zu. Bald schritten sie über die hohen Hulabfelsen dahin, die in weitem Halbrund dem Nufa gegenüberliegen. Dort blickten sie noch einmal hinüber auf die neue Ringmauer, auf die Zickzacksteige und hinunter in das Tal mit dem neuen Dorf. Ein Rabenschwarm kreiste hoch über dem Berg.

„Rulaman“, sagte Repo, „ich habe viel erfahren heute; eines aber vor allem, Gulloch hasst mich, und ich hasse ihn. Sei’s drum! Er oder ich! Nebeneinander können wir beide nicht leben. Siehst du die Kargas drüben hoch in der Luft über dem Nufa, wie sie krächzend und klagend durcheinander stürmen? Der Nufawald war ihre Nachtherberge, solange ich weiß. Ihr armen Aimatvögel! Der Nufawald ist nicht mehr. Habt ihr sie denn vergessen die furchtbare Nacht, da ihn die Kalats verbrannten mit so vielen eurer Kameraden? Und doch sucht ich ihn noch jeden Abend! Wie lange wird es dauern, da werden sie auch uns vertreiben aus unseren Höhlen, und die letzten unseres Stammes werden umherirren an den Abhängen dieser Berge und die leere Tulka aufsuchen und klagen und fluchen über die Kalats, wie dort die Kargas.“

„Glaubst du, dass Ara gefangen sitzt in jener Hütte drüben am Wald?“, fragte Rulaman.

„Ich wünsche, die schöne Ara wäre nie in die Tulka gekommen“, sagte Repo. Dann kam er wieder auf seine Gedanken zurück und fuhr fort: „Unsere Zeit ist aus.“

„Nicht, wenn wir von den Kalats lernen“, sagte Rulaman, „wir schlagen sie mit ihren eigenen Waffen!“

„Du bist jung“, versetzte Repo, „ich bin alt und sterbe als Aimat.“