Es war gegen Ende des Mansika, des Erdbeermonats. Der Tag des Sonnenfestes war gekommen. Repo, der alte Nargu und der Angekko waren einig geworden, der Einladung des Kalatfürsten zu folgen.

Früh am Morgen verließen Repo und Rulaman mit sämtlichen Tulkamännern im schönsten Waffenschmuck die Höhle. Nur Obu fehlte. Seit ihm Rulaman seine Vermutung über den Aufenthalt Aras mitgeteilt hatte, war er jeden Abend verschwunden und immer erst gegen Morgen zurückgekehrt. Über Tag saß er brütend und verschlossen neben der alten Parre und flüsterte oft mit ihr zusammen. Rulaman forderte ihn auf, mitzukommen; er antwortete rasch: „Ich komme später, mein Fest beginnt erst in der Nacht.“

Als unsere Aimats in das Nufatal hinab stiegen, schien das ganze Dorf ausgestorben; sogar den alten Töpfer sah man nicht an der Arbeit. Auch die Steige, die neulich von geschäftigen Menschen gewimmelt hatte, war still und verlassen. Nur die Pferde, Rinder und Schafe weideten jenseits des Baches auf der grünen Halde. Als sie aber die Zickzackwindungen hinaufstiegen, vernahmen sie bald das Getöse einer lärmenden Volksmenge von der Burg her. Die Ringmauer, sonst kahl und weiß, blickte ihnen heute gar freundlich als ein grüner Kranz entgegen. Tanne an Tanne war darauf gesteckt und hoch über denselben, auf einer dünnen Stange, flatterte eine goldgelbe Fahne lustig im Morgenwind.

Als sie der Burg nahten, ertönte laut ein Horn von oben, wohl als ein Zeichen, dass Gäste in Sicht seien.

Bald darauf erschien Gulloch mit Kando und Welda unter dem Tor, alle drei in prächtigem, rotem Festgewand, reich mit Goldzierraten geschmückt, hinter ihnen die Leibwache des Fürsten, mit Musikern, die Kupferbecken aneinander schlugen. Gulloch und sein Sohn trugen schwere goldene Ketten um den Hals mit strahlender Goldsonne daran, Welda ein breites Diadem auf dem Kopf mit einem glänzenden Stern vorn in der Mitte.

„Belen, der hehre Sonnengott, erleuchte eure Wege“, so lautete heute der Gruß Gullochs, und mit diesem reichte er auch Repo und Rulaman glänzende Sonnensterne. „Aber wo habt ihr die schönen Ketten, die ich euch verehrt habe, warum brachtet ihr sie nicht zum Fest?“

„Wir kommen als Aimats“, antwortete Repo kurz und ernst. „Ist es Sitte der Kalats, ihren Gästen die Kleidung vorzuschreiben?“

Man führte sie durch den Burghof in den dahinter liegenden Wald. Hier war ein großer, runder Platz von Bäumen entblößt und sorgfältig geebnet, an einer Seite desselben ein hohes Holzgerüst, mit Laubgezweig und Tannen verziert.

Dort hinauf stieg Gulloch und lud Repo und Rulaman ein, ihm zu folgen, bedeutete ihnen aber zugleich, dass die anderen Tulkas unten bleiben sollten. Schon die Frage nach der Kette hatte Repo verstimmt; diese Sonderung von seinen Brüdern verdross ihn noch mehr; doch unterdrückte er seinen Unwillen.

Oben auf dem Gerüst stand ein langer Tisch mit Sitzen für die Häuptlinge. Über ihnen wölbte sich ein grünes Laubdach. Der ganze Platz, die ganze Volksmenge war von hier aus zu überschauen.

Als die Häuptlinge oben erschienen, ertönte lauter Trompetenschall von der Leibwache, die sich unten an dem Gerüst aufgestellt hatte, und stürmisch jubelte das versammelte Volk, Männer, Weiber und Kinder, den Fürsten seinen Gruß zu.

Alle Kalats waren heute in neue, bunte Gewänder gekleidet. Rings von den umgebenden Bäumen flatterten farbige Tücher. Die rauschende Freude der Menge und die glänzende Farbenpracht konnten wohl unsere einfachen Aimats blenden, wie es Gulloch erwartet hatte. In der Tat schien der junge Rulaman entzückt von dem prächtigen Schauspiel; Repo aber starrte düster in das bunte Volksgewühl hinunter.

„Siehst du, wie glücklich sie sind?“, sagte Gulloch, „denken sie jetzt noch an ihre Arbeit? Doch das ist nur der Anfang, erst mit dem Opfern beginnt die wahre Festfreude.“

„Wo ist der Druide?“, fragte Repo.

„Er wird erst zum Opfer erscheinen. Er zeigt sich nur, wenn er im Namen der Götter spricht oder handelt.“

„Was soll der große steinerne Bau dort in der Mitte des Platzes?“, fragte Rulaman Kando, der neben ihm saß.

„Es ist der Opferaltar.“

„Ist es wahr, dass ihr eurem Belen Menschen als Opfer schlachtet?“

„Wir bringen dem Sonnengott Opfer von dem Besten, was wir haben: Brotopfer von unserem Getreide, dass er unser Ackerland segne; Obst von unseren Bäumen, dass sie gedeihen und ihre Früchte reifen unter seinen Strahlen; Tieropfer von unseren Herden, dass sie gesund bleiben und sich vermehren auf unseren Weiden, und ein Kind aus unserem Volk, dass er die Kalats wachsen und herrschen lasse über ihre Feinde. So lehrte mich der Druide.“

„Und dein Vater übergab dem Druiden einen Sohn seines Volkes, um ihn zu morden?“

„Niemand würde wagen, dem Druiden zu widersprechen, auch mein Vater nicht, denn aus ihm spricht Belen, und das Volk glaubt an ihn.“

„So herrscht der Druide und nicht dein Vater. Wäre ich Kalatfürst“, sagte Rulaman mit edler Entrüstung, „kein Menschenblut sollte für die Sonne vergossen werden! Erwärmt und segnet denn die Sonne nicht auch die Aimats seit uralter Zeit? Und doch bringen wir nur Worte und Gesang als Dank.“

Erstaunt, fast erschrocken, blickten Kando und Welda den kühnen Jüngling an.

Wieder erscholl ein Trompetenstoß. Gulloch stand auf. „Die anderen Gäste kommen“, sagte Kando und erhob sich gleichfalls mit Welda. Sie gingen den Gästen entgegen in den Hofraum. Bald erschienen sie wieder, mit ihnen der Angekko und der Nargu, gefolgt von einer großen Menge ihres Volkes, darunter auch viele Weiber und Mädchen, manche schon in Kalatkleidern. Auch der Nargu und der Angekko trugen wollene Leibröcke und viele Goldzierraten, die sie wohl von den Kalats durch die Arbeit ihrer Leute erworben hatten; beide aber über dem Wollkleid noch den weißen Wolfspelz des Aimathäuptlings. Ein stattlicher Mann war der Nargu trotz seines hohen Alters. Unser Angekko aber sah sehr dürftig aus. Er blickte fast furchtsam um sich, und ein Flüstern und Lächeln ging durch die Menge ob seines hohen Holzhelms und des Gürtels mit Kuderkiefern.

Nachdem die Aimathäuptlinge einander freundlich begrüßt hatten, gab Gulloch das Zeichen zum Beginn des Festes.

Der Lärm unter dem Volk verstummte. Erwartungsvoll blickten alle in der Richtung nach dem Burghof, wo sich der Festzug indes geordnet hatte.


Der Festzug auf dem Nufaberg

„Sie kommen, sie kommen!“, so rauschte es durch die Menge.

Ein schlanker junger Mann in rotem Leibrock mit Federbarett und nackten Knien eröffnete als Herold mit Trompetenschmettern den Zug. Hinter ihm her tanzten sechs Jünglinge in eng anliegenden goldgelben Kleidern, mit kupfernen Tamtams den Takt schlagend.

Die zweite Gruppe – denn der Zug war kein zusammenhängender – bildeten zwölf kleine, weiß gekleidete Mädchen mit Blumenkränzen auf den dunklen Lockenköpfchen und Blumensträußen in den Händen.

Als nächste in der Reihe folgten diese ebenso viele größere Mädchen, gleichfalls in weißen Kleidern, mit bunten Bändern geschmückt, die zusammen eine lange Blumengirlande trugen.

Das Volk hatte indes Raum gemacht und sich längs des Waldrandes im Kreis herum aufgestellt. Diesem Kreis entlang zogen die Jünglinge und Mädchen, bogen dann ab in die Mitte dem Altar zu und stellten sich dort auf, die Jünglinge zur Seite, die größeren Mädchen mit der Girlande den Altar in weitem Halbkreis von hinten umfassend, die kleineren wie Blumensträuße zwischen ihnen.

Das war die Eröffnung des Zuges.

Ein zweiter Herold erschien jetzt. Das Allerheiligste der Kalats nahte, der Sonnenwagen des Belen, ein kleiner, über und über vergoldeter Wagen aus Metall, auf dem ein großer, blinkender Kessel hing. Der Wagen wurde getragen von vier Männern auf einer mit rotem Tuch bedeckten Bahre. Unmittelbar hinter ihm erschien der Druide in seinem langen, weißen Faltengewand mit gold strahlendem Gürtel, ein breites, schwarz glänzendes Opfermesser in der Rechten führend.

Das ganze Volk warf sich vor ihm auf die Erde nieder.

Feierlich und gemessen schritt der Ehrfurcht gebietende Greis auf einen erhöhten Platz vor dem Altar zu und stellte den Goldwagen mit dem heiligen Gefäß in die Mitte desselben.

Wieder ertönte die Trompete des Herolds. Es erschien der Zug der Opfer.

Junge Mädchen trugen gelb glänzende Schalen mit goldenen Äpfeln und Birnen und frischen Walderdbeeren. Hinter ihnen folgte eine lange Reihe von Männern mit Körben voller flacher, gelber Brote, sternartig wie eine Strahlensonne geformt, dann kamen wieder Mädchen mit roten, schwarz bemalten Tongeschirren voll Milch auf dem Kopf.

Nun erst erschienen die Opfertiere.

Voran drei weiße Schafe, grüne Laubkränze um den Hals, von Mädchen an farbigen Bändern geleitet; darauf zwei prächtige weiße Stiere mit vergoldeten Hörnern und breiten Kränzen über den Schultern, geführt von jungen Männern in roten Kleidern; endlich ein weißes, bekränztes Pferd, das ein stattlicher Mann in Kriegsrüstung am Zaum hielt.

Zwölf Knaben in langen, weißen Gewändern, dem des Druiden ähnlich, auch sie mit Opferkränzen geschmückt, beschlossen den Zug.

Die Früchte, die Brote und die Milch wurden auf dem Altar niedergesetzt; die Opfertiere und die Opferknaben standen in weitem Halbkreis davor.

Jetzt gaben die Herolde zusammen ein Zeichen.

Ein lieblicher Gesang ertönte aus dem Kranz der Mädchen am Altar. Als sie geendet hatten, begann der Druide mit tiefer, wohlklingender Stimme den Lobgesang des Belen, in den von Zeit zu Zeit die Tamtams einfielen, deren markerschütternde Töne, vom Wald gebrochen, in weiter Ferne verklangen.

Nunmehr erhob der Greis das dunkel glänzende Messer hoch in der Rechten.

Lautlose Stille hatte bis dahin unter dem Volk geherrscht. Jetzt kam eine seltsame Aufregung, eine Bewegung in die Reihen. Von allen Seiten drängten sie vom Waldrand her zum Altar. Das Opfern begann. Die Tiere wurden der Reihe nach, die drei Schafe zuerst, durch einen Schlag mit dem Beil auf den Kopf betäubt, dann von dem Druiden mit dem Opfermesser ihre Halsadern durchschnitten, von jedem Opfertier eine kleine goldene Schale mit Blut gefüllt und in den großen Kessel auf dem Sonnenwagen gegossen, das ganze übrige Blut aber von dem jetzt wild herbeiströmenden Volk mit Schalen und Händen aufgefangen und gierig getrunken.

Rasch verteilte man dann die Opfertiere. Einen Teil der Eingeweide, das Herz und die Nieren samt dem Fett des Gekröses reichte man dem Druiden, der sie auf einen großen runden Stein vor dem Altar niederlegte. Auf diesen Stein blickte das ganz Volk in atemloser Spannung. Da flackerte plötzlich wie durch ein Wunder, wie von der Sonne entzündet, eine bläuliche Flamme auf und verzehrte das dargebrachte Opfer.

„Belen ist gnädig, Belen ist gnädig!“, jubelten alle zusammen.

Darauf teilte der Druide die Sonnenbrote unter das Volk aus. Dann verließ er den Altar und schritt, von den zwölf Opferknaben gefolgt, durch die demütig sich neigende Menge zum Burghof.

Sofort wurden nun ringsum Scheiterhaufen aufgerichtet und mit Feuer von dem Opferstein am Altar entzündet, das Opferfleisch daran gebraten, die ersten Stücke den Häuptlingen vorgesetzt, alles übrige in ausgelassener Freude und mit Jubel vom Volk verzehrt.

Der Eindruck, den das Fest bis dahin auf unsere Aimathäuptlinge gemacht hatte, war ein sehr verschiedener.

Mit steigendem Wohlgefallen, aber nicht ohne selbstbewusste Würde, hatte der alte Nargu auf das Schauspiel heruntergeblickt. Mit staunender, oft fast ängstlicher Gebärde verfolgte der Angekko aufmerksam alle Einzelheiten der Handlung. Repo saß in sich gekehrt ernst da und blickte meist stolz über die ganze Szene hinweg, als wollte er diesen Glanz der Kalats nicht sehen, um nicht selbst deren Überlegenheit zugestehen zu müssen.

Schwerer ist zu sagen, was Rulaman dachte und fühlte. Unbestimmt wogte es in dem jugendlichen Herzen hin und her; bald bewunderte, bald hasste er dieses Volk. Das Herrschaftsgefühl war auch ihm angeboren und sein Sinn nicht unempfindlich für den Glanz des Kalatfürsten, der hier auf seine, wie es schien, so glücklichen Untertanen herabblickte. Aber um so mehr sträubte sich sein Stolz gegen en Gedanken, dass seine Aimats auf die Stufe des Kalatvolkes heruntergedrückt und von Gulloch und dem Druiden beherrscht werden sollten.

„Ein prächtiges Fest“, begann der alte Nargu zu Gulloch. „Ich habe es oft zu sehen gewünscht, denn mein Vater hat mir viel davon erzählt, wie er es bei euren Ahnen mitgemacht hat am Langen Fluss.“

„Zum nächsten Sonnenfest hoffe ich die Brüder vom Twobasee hier zu sehen“, erwiderte Gulloch, „dann soll es noch großartiger werden als heute, und bis dahin, Vetter“, so nannte er den Nargu schmeichelnd, „denke ich, werdet ihr und die anderen Aimats bei uns im Nufatale wohnen.“

„Das überlasse ich meinen Nachkommen“, entgegnete der Alte fest, „ich freue mich an eurer Freude und will dein Bruder sein, aber ich bleibe drüben in meiner Höhle. Zwei Fürsten vertragen sich nicht zusammen.“

„Ihr habt gute Leute“, wandte sich jetzt Gulloch an den Angekko. „Sie sind gewöhnt an Gehorsam und ehren auch unseren Druiden.“

„Ich habe als ein Vater für mein Volk gesorgt“, erwiderte der Angekko feierlich, „und sie haben nie gedarbt. Sie waren zufrieden und heiter, weil ich jedem jeden Tag seine Arbeit gab und keiner zu sorgen brauchte.“

„Ihr seid ein weiser Mann“, versetzte Gulloch, „Gehorsam und Arbeit machen das Volk glücklich, Freiheit und ein müßiges Leben bringen stets zuletzt Sorgen und Hunger; das ziemt nur dem wilden Tier des Waldes.“ –

„Ist das Opfer zu Ende?“, fragte Rulaman Kando.

„Noch nicht“, antwortete dieser, „das höchste, das Menschenopfer, kommt erst am Abend, wenn die Feuer auf den Bergen brennen.“

„Und wo ist der Mensch, der geopfert werden soll?“

„Es ist einer der zwölf Knaben, die dem Druiden folgten. Noch weiß keiner von ihnen, ob er den nächsten Morgen erlebt. Aber glaube mir, alle Knaben im Volk begehren nach Ruhm, an Belens Fest zu den Auserwählten zu gehören.“

„Und wer erwählt endlich das unglückliche Opferkind?“

„Belen selbst“, erwiderte Kando. „Der Druide schöpft Opferblut aus dem runden Becken des Sonnenwagens, reicht es den Knaben dar, und der, den Belen erwählt, stürzt tot nieder. Die anderen Knaben beneiden ihn um diese Ehre, und das ganze Volk beglückwünscht seine Eltern. Von seinem Blut aber trinken nur der Druide und der Häuptling.“

Rulaman saß still in Gedanken versunken. Die feierliche Handlung, die Würde des greisen Priesters hatten einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, noch mehr vielleicht das wunderbar aufflammende Feuer. Sollte doch am Ende – der Gedanke erfasste ihn plötzlich – dieser Belen, dem das Kalatvolk opferte, und den es so aufrichtig verehrte, ihm seine Macht und seinen Glanz verleihen, der es so weit über die Aimats stellte?

Nach dem Schmaus zerstreute sich das Volk nach allen Seiten in den Wald. Gulloch führte seine Gäste die Steige hinab ins Herrenhaus. Heiß brannte die Sonne auf den kahlen Berg. Im Westen ballten sich einige dunkle Wolken zusammen.

„Ich höre, ihr könnt das Wetter vorhersagen und Wetter machen“, so begann Gulloch halb lächelnd zum Angekko. „Ich bitte euch, sorget, dass unser Opfer und unsere Bergfeuer am Abend nicht getrübt werden.“

Der Angekko nahm alle seine Würde zusammen und entgegnete schlau: „Am Tage des Belenfestes überlasse ich dem Belendruiden die Macht, den Wolken zu gebieten.“

„Wo ist der Druide mit den Opferknaben jetzt?“, fragte Rulaman Kando.

„Sie sind allein mit ihm in einem dunklen Gewölbe der Burg, dort unterrichtet er sie über Belen und seine Gebote und seine Macht und speist sie mit Milch und Honig.“

„Ich wünschte, auch ich könnte alles erfahren von dem Druiden über euren Belen“, versetzte Rulaman.

Im kühlen Herrenhaus wurde den Häuptlingen Brot und Fleisch, Milch und Kum vorgesetzt. Nachdem sie sich gelabt hatten, forderte Gulloch Welda auf, das alte Kalatlied zu singen, „das Lied“, so erläuterte er seinen Gästen, „das das Leben des Kalat malt, ihn an seine Heimat erinnert, auf der Wanderung ermutigt und zum Kampf begeistert.“

Welda sang zu einem Saiteninstrument. Schwermütig und tief erklangen die ersten Strophen, wie Heimweh nach dem Land, das sie verlassen mussten. Dann tönte es wie Wellenrauschen eines rasch dahin gleitenden Stromes. Jetzt folgten kräftigere, mutigere Klänge: Das Volk steigt ans Ufer in einem neuen Land. Plötzlich schmetternde Kriegsleute und wilde Schlachtrufe: Das Wandervolk kämpft und erobert die neue Heimat. Endlich jubelnde Siegesfanfaren, in die Gulloch und Kando begeistert einstimmten. In zarten Lauten des Friedens verklang das schöne Lied.

Das liebliche Mädchen erhob sich und wiederholte in reizendem Tanz, was sie soeben gesungen hatte, mit zierlichen Metallbecken ihre leichten Bewegungen begleitend.

Unser Aimats waren ergriffen von dem bezaubernden Gesang, dem Tanz und dem stürmischen Schluss jeder Strophe:

„Hurra! Ins Feld,
Hinaus ins Zelt!
Mit dem Kelt, mit dem Kelt
Erobert der Kalat die Welt!“

Doch widerstrebte Repo in seinem Innern mit aller Kraft dem Einfluss dieses neuen Zaubers, dem sich der junge Rulaman mit warmem Herzen hingab. Immer höher wuchs dieses neue Volk in seinen Augen, immer dürftiger erschien ihm dagegen sein eigenes und dessen ganzes Leben.

Dann zeigte Gulloch den Aimathäuptlingen seine kostbarsten Schätze, vor allem einen runden Bronzeschild und ein dunkle glänzendes Schwert. Auf dem Schild war, kunstvoll in Gold gearbeitet, ein Zweikampf dargestellt: Ein wilder, in Tierfelle gehüllter Mann, der ein Steinbeil in seiner Rechten schwang, ihm gegenüber ein Krieger in reicher Kleidung mit langem Metallschwert.

„Welcher von beiden wird siegen?“, fragte Repo.

„Ich denke, der mit dem Schwert“, meinte Gulloch, „ich will euch das Schwert zeigen, das er führt.“

Nun holte er ein merkwürdiges, grau glänzendes Schwert herbei, offenbar aus demselben Stoff geschmiedet wie das Opfermesser des Druiden. Die ganze Klinge war mit rätselhaften Zeichen bedeckt.

„Das ist nicht aus dem Stein“, sagte er, „wie ihr droben ihn beim Gießen saht, und den ihr Aimats Sonnenstein nennt. Jener gelbe stammt nur von der Erde, dieser graue aber stammt wirklich von der Sonne, von wo ihn mein Urahn mitgebracht und das Schwert daraus geschmiedet. Seit undenklicher Zeit hinterließ es der Vater dem Sohn, bis herab auf mich. Ein wunderbarer Zauber ruht in ihm. Nie kann der unterliegen, der es führt!“

„So würde ich es nie von der Seite lassen“, sagte Repo. „Doch du irrst, dein Schwert ist zu lang, kurz ist die Waffe des Mutigen.“

„Heute in einem Jahr“, erwiderte Gulloch, „werden wir wissen, wer wahr gesprochen.“

„Wer dann noch lebt“, versetzte Repo kalt.

Es war dämmerig geworden, sie stiegen zusammen den Berg wieder hinauf zur Festung. Aber keine Kühlung brachte der Abend. Dumpfe Schwüle lag auf der Erde. Glutrot sank die Sonne zwischen schwarzen Wolken hinunter. Leises Donnerrollen ließ sich hin und wieder aus weiter Ferne vernehmen.

„Wir werden eine schwere Gewitternacht haben“, sagte Repo, „vielleicht wäre es besser für uns, wir kehrten nach Hause zurück.“

„Das werdet ihr nicht tun“, entgegnete Gulloch, „oder zittert der Aimat etwa vor dem Donner?“

„Der Aimat zittert vor nichts“, versetzte Repo, „Aber er spürt die Gefahr, noch ehe sie da ist.“ Dann fügte er ernst hinzu: „Als oben das Feuer plötzlich aufflammte auf eurem Opferstein, da dunkelte es vor meinem Auge. Ein Blitz fuhr hernieder und traf dich, Gulloch; gleich darauf ein zweiter, der zerschmetterte die alte Eibe vor unserer Tulka, und das bedeutet den Tod des Tulkastammes, so sagt unser Volk.“

Gulloch blickte finster drein, suchte aber seine trüben Gedanken zu verscheuchen und sagte: „Stört mir nicht mein Fest mit diesen traurigen Reden. Seht ihr, drüben auf den Hulabfelsen zünden sie schon das Belenfeuer an, und so viele Scheiterhaufen sollen brennen rings auf den Bergen, dass das ganze Nufatal erleuchtet sein wird, so hell, wie wenn Belens Wagen selbst noch am Himmel dahinführe.“

Sie traten in den dunkelnden Hain. Wie ganz anders sah nun der Festplatz aus als am Morgen. Rings im Kreise an dem jetzt schwarzen Wald brannten Fackeln, und ein engerer Kreis von solchen warf ein grelles, rotes Licht auf den Altar. Wunderbar strahlte das Sonnenbecken in der Mitte des glänzenden Wagens. Die Nacht war schnell hereingebrochen, die finsteren Wolken des Abendhimmels hatten sich weithin verbreitet.

Als der Fürst mit den Häuptlingen wieder auf seinem Platz erschien, ertönte ein schmetterndes, Stille gebietendes Zeichen von der Leibwache, die sich vor dem Gerüst aufgestellt hatte, zugleich ein Zeichen für das Volk, dass der feierliche Schluss des Festes beginnen solle. Von allen Seiten strömte die Menge herbei. Mit Spiel und Tanz und ausgelassener Lustbarkeit hatten sie den ganzen Nachmittag seit den Tieropfern verbracht.

Lange ließ der Druide auf sich warten.

Die Nacht war stockfinster, um so heller die Feuer der Kalats auf den Bergen rings um das Nufatal. Von den himmelhohen, schroffen Hulabfelsen, auf die man vom Festplatz aus einen freien Ausblick hatte, flogen von Zeit zu Zeit große Brandfackeln in das tiefe, schwarze Tal hinunter, die das ganze Volk mit stürmischem Jubel begrüßte.

Endlich ertönte ein zweites Zeichen, und von dem dunklen Burghof nahte unter wunderbarem Gesang eine kleine Schar von Fackelträgern. Es war der Druide mit den Opferknaben. Tiefe Basstöne des Alten wechselten mit hellen Kinderstimmen, in denen sich aber kein Leid, keine Trauer, sondern nur jauchzende Freude, ja trunkenes Entzücken kundgab.

Der Donner war näher und näher gekommen, und schon zuckten einzelne Blitze durch die Bäume. Wie am Morgen stand der Druide auf dem Platz vor dem Altar, vor ihm die zwölf Knaben im Halbkreis um den runden Opferstein herum. Er ergriff eine goldene Schale vom Altar, schöpfte Opferblut aus dem Sonnenbecken und reichte es dem ersten Knaben, hierauf dem zweiten, dem dritten und den folgenden. Sie tranken alle nacheinander. Als auch der zwölfte getrunken hatte, ohne als Opfer niederzustürzen, entstand ein unwilliges Murmeln unter dem Volk.

Plötzlich hob der Druide beide Arme in die Höhe und rief mit Donnerstimme:

„Belen zürnt euch, ihr Kalats! Er verschmäht das höchste Opfer, das Kind aus eurem Volk! Ein Feind der Kalats, ein Feind Belens hat teilgenommen an seinem hohen Fest. Sein Blut verlangt Belen.“

Entsetzt blickte alles nach dem Druiden, dann hinauf nach dem Fürsten und den Aimathäuptlingen.

Noch einmal erhob der Druide seine Stimme und rief die drohenden Worte: „Wehe über den Kalat, der seinen Feind beschützt! Sein Blut wird fließen mit dem Blute des Feindes!“

Wieder harrte er eine Weile; dann tauchte er das Opfermesser in die Sonnenschale auf dem Altar, hielt es bluttriefend dem Volk entgegen und schrie:

„Das Opfer Belens ist durch die Gegenwart der Ungläubigen entweiht! Ihr alle kennt sie, jene Aimats, die euch und euren Gott hassen. Versöhnt den zürnenden Belen!“

Mit diesen Worten trat er rasch vom Altar herunter und schritt, von den Opferknaben gefolgt, zum Burghof.

Lautes Geschrei, zornige Rufe, drohende Verwünschungen ertönten aus dem Volk. Immer heftiger erdröhnten zugleich die Donnerschläge, und einige aus der Menge riefen zu Gulloch hinauf: „Hörst du nicht Belens Stimme?“

In diesem Augenblick stürzte ein Kalat, in der Kleidung der Leibwache, atemlos von der Burg her nach dem Gerüst hin und schrie dem Fürsten zu: „Mord, Verrat! Ein Aimat hat meinen Kameraden am Gefängnis niedergestochen, das Gefängnis angezündet und das Aimatmädchen befreit!“

Gulloch erhob sich und rief mit lauter Stimme: „Nehmt alle Aimats gefangen, dass der Schuldige uns ausgeliefert werde; sein Blut gehört Belen!“ Damit zog er sein Schwert, zückte es gegen Repo mit den Worten: „Du bist mein Gefangener!“

Wütend sprang dieser auf und schrie: „Hat der Tulkamann nicht recht gehabt? Du bist der Räuber Aras, und du willst deine Gäste binden lassen!“ Er riss den Dolch aus seinem Gürtel und stieß ihn Gulloch tief in die Brust.

Mit einer grässlichen Verwünschung stürzte dieser zu Boden und zugleich ertönte der gellende Angstschrei Weldas: „Mein Vater, mein Vater!“

Repo aber rief laut hinunter in die Menge: „Herauf zu mir, ihr Tulkas, ihr Aimats! Lasst euch nicht fangen von den Räubern!“


Die Ermordung der Aimats beim Belenfest

Schon war die Leibwache oben auf dem Gerüst. Ein fürchterliches Ringen und Kämpfen begann. Repo schlug um sich wie ein Löwe, aber am Ende stürzte er, von vielen Wurfspießen durchbohrt, ebenso die anderen Häuptlinge. Auch der alte Nargu hatte sich tapfer gewehrt. Nur der Angekko hatte mutlos sein Gesicht mit dem Wolfpelz bedeckt und war ohne Gegenwehr gefallen.

Indes wütete der Kampf auch unten auf dem Platz. Auf den furchtbaren Lärm war der Druide selbst herbeigeeilt. Mit fliegenden Haaren, eine Fackel in der Linken, das blutige Opfermesser in der Rechten, rief er den Kalats zu: „Tötet die Männer, tötet die Knaben! Schonet die Aimatweiber!“

Es war ein grauenhaftes Morden. Alle Aimatmänner, die nicht flohen, wurden niedergemacht.

Rulaman war, als er Repo zu Hilfe eilen wollte, rückwärts von einer Waffe getroffen, im Gedränge über das Gerüst hinuntergestürzt. Dort erkannte ihn ein Tulkamann, raffte ihn auf und floh mit ihm in den Wald.

So endete Belens erstes Opferfest auf dem Nufaberg.