Mitternacht war vorüber. Das Gewitter hatte ausgetobt. Stiller Friede ruhte wieder auf der Erde. Wo kurz vorher heiße Blitze auf Augenblicke schauerlich die Nacht durchleuchtet hatten, lag jetzt der sanfte, kühle Schein des Mondes weithin ausgebreitet.
Vor unserer Tulka war es noch lebendig. Die Weiber saßen um die alte Parre herum; keine dachte an Schlaf. Mit Sorge hatten sie die Männer zum Kalatfest ziehen lassen. Repo hatte versprochen, zur Nacht zurück zu sein. Warum hielt er nicht Wort?
Sie unterhielten sich leise, flüsternd. Jedes kleine Geräusch vom Wald, vom Tal her unterbrach die Reden. Sie horchten mit angehaltenem Atem. Was war das? Ein Uhuruf? Das matte Krächzen eines schlaftrunkenen Raben? Ein Baumast, der, vom Sturm geknickt, jetzt vollends herabstürzte? Oder waren es wirklich die ersehnten Männer?
Endlich hörte man deutliche Tritte, nicht vom Brunnenweg herüber, sondern von dem steilen Fußpfad gerade herauf, dem Eingang der Höhle gegenüber.
„Der Karga kommt und bringt den Sabliga!“, rief die Alte.
Wirklich erschienen gleich darauf Obu und Ara in atemloser Hast.
„Da ist sie, ich bringe sie wieder!“, jubelte Obu siegestrunken, und die schöne Ara eilte freudebebend zur alten Parre, fasste ihre braunen, runzligen Hände, drückte sie und küsste sie.
„Bist du gesehen worden? Hast du beide Wachen getötet?“, war die erste Frage der Alten, die um den Befreiungsplan Obus wohl wusste.
„Nur eine, die andere rannte davon, in die Nacht hinein“, versetzte Obu.
„Ich dachte mir’s“, seufzte die Alte schwer, „darum ist Repo nicht zurück.“ Dann rief sie: „Weinet, ihr Weiber, eure Männer kommen nicht wieder!“
Laut schrieen die Frauen, denn was die Alte sprach, traf ja immer ein.
„So sind die Männer noch nicht zurück?“, fragte Obu. „Dann ist die Kalatwache hinaufgerannt nach der Burg, und unsere Männer sind gefangen.“
„Gefangen nicht“, versetzte die Alte, „die Tulkas lassen sich nicht fangen, sie lassen sich nur töten.“
In schwerer Trauer, mit wenig Hoffnung, flossen die langen Stunden dahin. Es war beinahe Morgen, da vernahm man wieder Tritte vom Wald her. Hoffnung, süße Hoffnung kehrte plötzlich zurück in die Herzen der angstvoll Harrenden. Obu rannte zum Abgrund hin, an den Fuß der Eiche und spähte und horchte hinunter in das stille Waldtal.
Die Tritte kamen näher, gerade den Berg herauf.
„Es sind nur wenige!“, rief er hinüber, „ich sehe nur zwei, wo sind die anderen?“
Rulaman und der Tulka, der ihn gerettet hatte, kamen jetzt blutbespritzt, schweißtriefend und erschöpft oben an. Verzweiflung malte sich auf ihren Gesichtern. Rulaman konnte sich kaum aufrecht halten. Von Obu gestützt, wankte er hinüber zur alten Parre, wollte sprechen, wurde blasser und blasser und sank bewusstlos vor den Füßen der Urahne zusammen.
„Er ist schwer verwundet“, keuchte der andere.
Die Alte stieß einen gellenden Schrei aus. „Und wo ist Repo?“, rief sie.
„Tot!“
„Und wo sind meine anderen Tulkasöhne?“
„Tot, tot! Und auch der Nargu und der Angekko und auch die Huhka- und die Nallimänner; alle, alle verräterisch gemordet!“
Händeringend, mit verzweifeltem Jammergeheul, rannten die armen Frauen umher und rauften sich die Haare aus; die einen stürzten nach dem Abgrund hin und riefen die Namen ihrer Männer ins Tal hinab, die anderen schrieen jammervoll in die Höhle hinein nach ihren Kindern, die drinnen schliefen.
Nur die alte Parre saß ruhig auf ihrem Platz, wie ein Steinbild. Starr vor Entsetzen blickte sie hinab auf ihren Liebling, der zu ihren Füßen lag. Neben ihm kniete Ara. Große Tränen rollten über ihre Wangen. Mit zarter Hand badete sie seine Stirn in kaltem Wasser und rieb seine Schläfe.
Rulaman hatte eine Wunde im Rücken, die stark blutete. Obu riss den Pelzrock auf. Jetzt erst, als sie die Wunde sah, dachte auch die Alte daran, ob nicht noch Rettung möglich sei. Sie beugte sich herunter. Ara wusch die Wunde aus, und die Alte betastete sie lange. Bedenklich schüttelte sie den Kopf, streute dann ihr schmerzstillendes Pulver auf und hieß Ara die Wunde verbinden.
Plötzlich erhob sie den Kopf wieder und fragte den Tulkamann: „Ist Gulloch noch am Leben?“
„Er fiel als der erste von allen, durch Repos Hand.“
Ein Blitz der Freude durchzuckte ihre welken Züge. „Und der Alte, der Weiße?“, forschte sie weiter.
„Fünfzig und fünfzig Kalats sah ich fallen“, sagte der Tulka, „aber immer blieb der Weiße aufrecht am Altar stehen und rief: ‚Tötet, tötet die Aimats!’“
„So fliehet, Kinder!“, schrie die Alte, „fliehet, fliehet! Morgen sind die Kalats hier!“
Der erste Sturm der Verzweiflung war vorüber. Unter Wehklagen hatten die armen Weiber dem weiteren Bericht des Mannes zugehört. Dann verschwanden sie, eine nach der anderen, in der Höhle.
Nur in die Augen der Alten kam kein Schlaf, und mit ihr wachten Obu und Ara.
„Wohin fliehen?“, fragte Obu.
„Nach der Nallihöhle“, meinte Ara, „sie ist weiter ab vom Nufatal.“
„Törichte Kinder“, versetzte die Alte, „Tulka-, Huhka- und Nallihöhle, das gilt nun gleich. Der Alte, der Weiße, hat den Untergang der Aimats beschlossen und kennt die drei Höhlen. Aber ihr kennt die Staffa drüben, hoch am vorderen Felsen. Der enge Eingang ist dicht mit Waldreben überwachen, der Zugang gefährlich. Dort könnten wir uns noch verbergen, und wenn wir da Hungers sterben, so ist es unsere Totengruft, und die Kalatwölfe werden unsere Gebeine dort nicht stören.“
„Aber die Staffa ist zu klein“, meinte Obu. „Da ist nicht Raum für uns alle. Die Kalats haben viele Männer verloren, wohl ihre besten, ihre mutigsten. Sie werden nicht sobald wagen, uns anzugreifen. Noch sind wir zwei Männer hier in der Tulka. Da kann kein Feind herein in unsere Höhle. Wir verrammeln den Eingang und schießen durch die Löcher hinaus. Wo ein Kalat nur den Platz vor der Höhle betritt, sitzt ihm mein Pfeil in der Brust.“
„Oder der meine!“, rief Ara, vor Rachedurst glühend.
„Ihr kennt den Alten, den Weißen nicht; doch tut, wie ihr wollt“, versetzte die Alte. „Mir wird trüb vor den Augen. Ich glaube, die Kraft meines Kopfes ist gewichen. Ich träume und doch wache ich. Seht ihr dort den Nargu stehen mit der klaffenden Wunde über den Kopf? Er winkt mir; und dort steht Repo, von Speeren durchbohrt, und neben ihm Rul; sie schütteln sich die Hände. – Aber wo ist Rulaman? Ist er tot? Ich habe euch immer gesagt, er werde ein großer Häuptling werden. Ich habe gelogen. – Mir schwindelt. Haltet mich, ich falle! Tut, wie ihr wollt, glaubt der alten Parre nichts mehr! Bringt sie in die Staffa mit Rulaman – in die Staffa, in die Staffa!“ Dann brach sie ohnmächtig zusammen.
Der Berg, an dessen nördlichem Abhang die Tulkahöhle lag, lief nach Südwest in ein schroffes Vorgebirge aus, das mit einer mächtigen Felswand schloss. Himmelhoch, kahl, senkrecht abfallend ragte diese weit vor in das Armital. Mitten in der breiten Felsenstirn, gerade nach Süden, sah man vom Tal aus, schon aus weiter Ferne, einen rundlichen schwarzen Fleck im grauen Gestein.
Dies war der Eingang zur Staffahöhle, nur dem Kundigen erkennbar, denn uralte, dicke Waldreben waren in den Klüften und Spalten des Gesteins hinauf gekrochen, sie hatten den Eingang überwachsen und fast unsichtbar gemacht. Auch der Fuß der Felswand war mit Wald verhüllt und schien unnahbar. Nur die Tulkas kannten jenen geheimen, steilen, mit Gebüsch verdeckten Pfad, der von einem der Ränke des Brunnenwegs nach dem schmalen Rasengürtel hinüberführte, der dem Felsen entlang lief. Von hier aus konnte man mittels eines angelegten Baumes oder einer Leiter zur Staffa hinaufsteigen.
Ein Uhupaar hatte seinen Horst dort aufgeschlagen, denn seit Jahrzehnten hatte kein menschlicher Fuß die Höhle betreten. Nur einmal, seit die alte Parre in der Tulka lebte, war sie als Zufluchtsort benutzt worden, bei einer schrecklichen Wassernot, als, – wohl durch den plötzlichen Einbruch und die Entleerung eines größeren Wasserbeckens im Gestein über dem Dach der Höhle – wie dies hin und wieder in unseren Albhöhlen der Fall, mit einemmal die ganze Tulka mehrere Fuß hoch überschwemmt wurde, so dass die Flut vorn zur Höhle herausstürzte. Das geschah im Frühjahr; zum Glück erfolgte der Einbruch der Wasser bei Tage, und alle Bewohner waren draußen. Damals flüchteten die Tulkas in die sichere Staffa, bis der Strom sich verlaufen hatte, kehrten aber so bald als möglich zur Tulka zurück, weil der Eingang zur Staffa so schwierig war, und der für sie so nötige Platz vor der Höhle fehlte.
Diese Höhle, darin hatte die Alte recht, konnte nie von den Kalats entdeckt werden, außer durch Verrat, und solchen brauchten sie nicht zu befürchten. Im übrigen war sie ein wohnlicher Aufenthalt. Zwar von dem schmalen Eingang aus, durch den ein Mann eben aufrecht hineinschlüpfen konnte, führte nur ein enger, unbequemer Gang auf glattem Fels steil abwärts, wie in einen düsteren Schacht hinunter. War man aber einmal unten angekommen, so trat man in eine schöne große, trockene Felsenhalle, hochgewölbt wie die Spitzkuppel eines gotischen Domes. Diese Halle war dem Eingang so nah, dass sie noch etwas Licht erhielt, und das dämmerige Halbdunkel, das hier herrschte, genügte unseren Aimats vollkommen ohne weitere Beleuchtung. Das bot einen großen Vorteil bezüglich der Sicherheit, denn Rauch, aus dem Felsen emporsteigend, hätte die Flüchtlinge leicht verraten.
In dieses treffliche Versteck waren die alte Parre und Rulaman schon am Morgen nach dem Belenfest gebracht worden. Mit Lebensgefahr hatten Obu und der andere Tulkamann dies ausgeführt. Sowohl die Alte als Rulaman mussten getragen werden, denn noch immer war dieser bewusstlos. Überdies hatte es zunächst einen gefährlichen Kampf mit den starken Uhus gekostet, die ihren Horst mit Todesmut verteidigten, weil sie gerade Junge hatten, und Obu musste das allein ausfechten, da nur für einen Mann in dem Felsspalt Raum war zum Stehen.
Mit rührender Zärtlichkeit versorgte Ara die Urahne mit allem, was sie nur wünschen konnte. Eine Menge Speisevorräte, ja sogar die Kostbarkeiten, die ihr teuer waren, schaffte man hinüber. Jeden Abend, wenn es dunkel geworden war, klopfte es leise unten am Felsen, und bald darauf erschien das mutige Mädchen bei der Alten wie ein guter Engel, brachte ihr Wasser, setzte sich zu ihr und klagte mit ihr über das jammervolle Geschick, das die Aimats betroffen hatte, und über Rulaman, der bleich und leblos vor ihnen lag und, wie es schien, allmählich in den Todesschlaf hinüberschlummerte.
Die Tulkas hatten indes nichts weiter von den Kalats erfahren. Obu hatte sich, wie Ara erzählte, schon öfters nach den Hulabfelsen geschlichen und hinuntergesehen ins Nufatal und hinüber nach der Feste. Das Dorf schien wie ausgestorben. Auch auf der Burgstiege sah er nur selten Leute wandern. Alle Arbeit war dort aufgegeben, aber oben im Wald an der Burg, wahrscheinlich auf dem Festplatz, rauchten beständig Leichenbrände. Auch die Huhka- und die Nallihöhle hatte er aufgesucht. Auch dort fand er nur Reste der Bewohner, einige Männer, die dem Blutbad auf dem Nufa entronnen waren, einige alte Frauen und viele Kinder, die an dem Belenfest nicht teilgenommen hatten; alle in Verzweiflung und beständiger Todesangst ohne die gewohnten, allsorgenden Häuptlinge, untätig, stumm ergeben ihrem weiteren Schicksal entgegensehend.
Wohl fragte Ara die erfahrene Ahne, was sie in ihrer Not weiter beginnen, ob vielleicht die Reste der Bewohner aller drei Höhlen zusammenziehen sollten? Aber in welche Höhle? Oder sollten sie zu den See-Aimats flüchten? Es waren so wenig Männer übrig, und dagegen so viele alte Leute und kleine Kinder, dass auch dieser Plan unausführbar schien.
Die Alte wusste keinen Rat mehr. Seit sie Rulaman verloren gab, schien alle Geisteskraft, alle Sicherheit, alle Hoffnung von ihr gewichen, denn er war ja das Licht ihrer Augen und, wie sie immer geglaubt hatte, der vorausbestimmte Retter und Rächer ihres Volkes.
Eine Woche nach dem Belenfest war so verflossen, da glaubte die alte Parre einmal mitten in der Nacht, nicht lange, nachdem Ara sie verlassen hatte, Kriegsgeschrei und Jammerrufe aus der Richtung der Tulka zu vernehmen. Mit Anstrengung ihrer letzten Kräfte kroch sie mittels einer Stange den steilen Schacht hinauf zu dem Eingang ihrer Höhle. Die Nacht war finster und stürmisch; sie hörte und sah nichts mehr. Sie blieb am Eingang sitzen und harrte dem Tag entgegen. Es musste ja ein Bote kommen, wenn ein weiteres Unglück geschehen war. Die Sonne erschien, noch saß sie regungslos in dem Felsspalt. Beim geringsten Geräusch bog sie die Waldreben auseinander, der alte weiße Kopf erschien draußen und horchte und spähte. Umsonst, sie blieb allein mit ihrer Angst. Sie wollte nicht wieder hinunter kriechen in die Höhle, sie saß wie gebannt, bis es Abend wurde. Wenn Ara noch am Leben war, so musste sie jetzt kommen. Aber die Nacht sank herab, kein menschlicher Fußtritt ließ sich vernehmen, kein Klopfen ertönte unten am Fels.
Die alte Parre im Eingang der Staffa
So saß die alte Parre bis zum Morgen und wieder bis zum Abend. Da erhob sie sich und kroch hinunter in die Halle. Ihr Entschluss war gefasst. Keine Nahrung sollte ihr trostloses Leben weiter verlängern. Sie setzte sich nieder neben Rulaman, um mit ihm zu sterben. Sie schlummerte eine Weile. Als sie wieder erwachte, dämmerte der Morgen. Ein matter Schein beleuchtete die Züge ihres Lieblings. Noch einmal beugte sie sich über ihn, drückte ihre gefurchte Stirn auf seine kalten Wangen, und in einem schweren Aufschrei entlud sich der so lang gewaltsam zurück gepresste Seelenschmerz des einsamen Aimatweibes, den die Arme nie durch Tränen zu lindern vermocht hatte, denn weinen konnte sie schon lange nicht mehr.
Aber was war das? Hatte sich nicht der leblose Jüngling bewegt? Hatte nicht seine Hand ihren Kopf berührt, als wollte er sie leise wegdrücken? Die Alte fuhr auf. Hoffnung kehrte wieder und mit ihr die alte Geisteskraft. Sie fasste den Kopf Rulamans mit beiden Händen, dann seine Schultern, schüttelte sie und schrie, so laut sie konnte, seinen Namen.
Und wirklich! Er lebte. Er schlug die Augen auf. Wahnsinnig vor Freude brach die Alte in ein gellendes Gelächter aus. Sie ergriff seine Hände und suchte ihn aufzurichten. Es gelang ihr. Rulaman, ihr Augapfel, saß wieder aufrecht, lebendig vor ihr. Er sah sich befremdet um, verlangte nach Wasser, das einzige, was ihm die gute Ahne nicht bieten konnte, denn kein Wasser tropfte in dieser Höhle, und Ara brachte ja keins mehr. Sie reichte ihm getrocknete Beeren zur Erfrischung. Er suchte sich zu erheben. Die Wunde im Rücken schmerzte. Doch schien ihn der lange Schlaf gestärkt zu haben.
„Wo sind wir denn?“, fragte er.
„In der Staffa“, antwortete die Alte. „Du kennst sie ja, das Uhunest vorn am breiten Tulkafelsen.“
„Wo sind Obu und Ara?“
Sie berichtete ihm alles, berichtete ihm auch von dem Geheul in jener schrecklichen Nacht und was sie vermutete, weil Ara seitdem nicht wieder gekommen war.
„Wo sind meine Waffen?“
Die Alte deutete in eine Ecke. Dort lag sein Steinbeil, sein guter Bogen, den er einst mit Obu ausgetauscht, auch das schöne Kupferschwert, das ihm sein sterbender Vater hinterlassen hatte.
„Ich muss herüber zur Tulka!“, rief er und wollte hineilen zu seinem Bogen und seinem Beil. Aber die Kräfte versagten ihm.
„Deine Beine sind schwach geworden“, sagte die Alte, freundlich lächelnd, „aber die meinen wieder stark, und du sollst mir auch wieder stark werden.“
Sofort, als wäre sie mit Rulaman zu neuem Leben erwacht, erhob sie sich, holte Fleisch herbei, machte ein Feuer an, was sie seit Jahrzehnten nicht mehr getan hatte, und beide stillten den neu erwachten Hunger.
Als Rulaman gekräftigt vor ihr saß, erleuchtete ein Strahl der Freude die Züge der Alten. Sie wollte jetzt seine Wunde untersuchen, aber Rulaman ließ es nicht zu.
„Der Stoß des Kalats war nicht stark genug für einen Aimat“, sagte er, „aber Wasser, Wasser, ich habe Durst!“
Die Alte seufzte schwer bekümmert. Doch in Rulaman war die ganze Naturkraft der Jugend wieder erstanden. Trotz der schmerzenden Wunde erhob er sich, holte Bogen, Pfeile und Steinbeil; die Alte wies ihm den Weg, und schon war er oben im Felsspalt. Eine Taube lag hier, eben getötet. Rulaman warf sie hinunter in die Höhle und rief hinein: „Die Uhus bringen uns noch Fleisch!“
So war es in der Tat. Das Uhupaar wollte offenbar wieder in seinen Horst einziehen und hatte Beute herbeigeschleppt.
Mit Mühe kletterte der Jüngling, nachdem er sich vorsichtig umgesehen und gehorcht hatte, an dem angelegten Baumstamm hinunter, schlich behutsam hinüber zur Quelle und trank in gierigen Zügen. Dann eilte er weiter zur Tulka.
Oben am Waldrand über derselben, auf der Wiese, wo sie dereinst die Pferde getummelt hatten, hielt er einen Augenblick an. Das Gehen war ihm sauer geworden. Die Wunde schmerzte. Er atmete schwer. Er horchte hinunter nach dem Waldabhang. Hier musste er Menschenstimmen hören, wenn noch jemand in der Tulka lebte. Er vernahm keinen Laut. Mit beflügelten Schritten eilte er den wohlbekannten Pfad hinab. Er bog um den letzten kleinen Fels und blickte auf den sonst so freundlichen Platz vor der Höhle. Totenstille überall. Die Eibe und die Eiche waren verstümmelt, verbrannt bis auf die verkohlten Stämme und einige Hauptäste, die schwarz und tot in die Luft starrten. Große dunkle Blutlachen waren halb eingetrocknet da und dort am Boden. Abgebrochene Speere, einige Steinbeile, eine Menge Pfeile, Stücke von Fell- und Kalatkleidern lagen umher. Ein heißer, blutiger Kampf hatte hier gewütet.
Leises Krächzen lenkte Rulamans Auge nach dem Baumstrunk über der Höhle, früher die Zielschreibe für die Knabenspiele. Dort saß der alte Tulkarabe. Auch er hatte Rulaman erkannt. Unter lautem Freudengeschrei umkreiste er ihn, setzte sich auf seine Schulter, flatterte mit den Flügeln und rieb seinen Schnabel an Rulamans Kopf, hauchte und gilfte, als wollte er ihm die schauerliche Mär erzählen, von der ihm sonst niemand mehr Kunde bringen konnte..
Jetzt fiel Rulamans Blick auf den Herd. Da lagen menschliche Gebeine, halb verkohlt wie angebraten, große und kleine, von Erwachsenen und Kindern.
Hatten die Kalats hier ein Kannibalenmahl gehalten? Wenn sie Knaben schlachteten beim Belenfest und ihr Blut tranken, dachte Rulaman, so konnten sie auch Menschenfleisch verzehren.
Was hatte der mächtige Scheiterhaufen vorn im Eingang der Höhle zu bedeuten? Er war nur halb niedergebrannt; viele frische Baumzweige mit Laub sahen daraus hervor. Noch rauchte und glimmte es in der Asche. War das eine neue teuflische Kriegslist der verräterischen Kalats?
Er zündete einen Holzspan an und schritt mit Mühe über den Scheiterhaufen weg in die Höhle hinein.
Diese war noch immer mit Rauch gefüllt. Er konnte kaum atmen, und sein Span wollte nicht brennen.
Jetzt wurde ihm klar, was geschehen war. Die Rache dürstenden Weißen, die nicht gewagt, mit den Waffen in der Hand in die Höhle einzudringen, hatten die Aimats feigerweise wie Füchse und Hyänen ausgeräuchert. Sie hatten die Armen, die in der Verzweiflung herausstürzten, niedergemacht, am Feuer gebraten und verzehrt.
Mit Grausen und Zorn drang er vorwärts. Er wollte all das Entsetzliche mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben.
Kurz ehe er in die große Halle kam, strauchelte sein Fuß an einer Leiche. Da lag ein Weib mit einem Kind im Arm, ganz unversehrt, offenbar erstickt.
In der hohen Wohnhalle hatte sich der Rauch nach oben verzogen. Rulaman atmete hier leichter; sein Span brannte hell.
Hier hatte er die meisten Leichen erwartet. Aber er fand wieder nur eine Frau, die sich vor dem erstickenden Rauch halb unter die Bärenfelle verkrochen hatte. Sofort erkannte er sie, es war Obus Mutter. Sie war alt und überdies krank gewesen und zu schwach zu einem Fluchtversuch.
Aber wo waren die anderen alle und die Kinder? Hinausgerannt, den Feinden in die Arme, oder weiter in die Höhle hinein, um dem Rauch zu entgehen?
Rulaman findet die Leichen seiner Freunde in der Tulka
Er suchte weiter. In der Vorratsgrotte fand er wieder drei Weiber mit kleinen Kindern. Endlich gelangte er in die Brunnenkammer. Sie war zur Leichenkammer geworden. Hierher, wohin der Rauch zuletzt gedrungen war, hatten sich die halberwachsenen Kinder geflüchtet und lagen zusammengedrängt beieinander, der Tulkabär daneben. Einige Knaben hingen oben auf den Felsvorsprüngen. In ihrer Todesangst waren sie an den Wänden hinaufgeklettert.
Nur die Kleider, die Gerätschaften, die Waffen, die Werkzeuge, die Vorräte hingen und standen an ihren gewohnten Plätzen an den Wänden herum und in den Felsnischen, unversehrt und unberührt. Offenbar waren die Kalats gar nicht in die Höhle eingedrungen.
Bei einer Leiche nach der anderen versuchte Rulaman, ob kein Leben mehr vorhanden sei, ob kein Herzschlag mehr zu spüren sei. Welche Freude wäre es ihm gewesen, auch nur noch ein Kind seines Tulkastammes mit in die Staffa zu bringen. Es war alles umsonst. Die Rache der Weißen war eine vollständige.
„Das hat der Druide so angeordnet“, flüsterte er vor sich hin.
Endlich kam er wieder aus der Höhle auf den freien Platz.
Wo war Ara? Wo waren die beiden Männer? Er hatte keine Spur von ihnen in der Höhle gefunden. Waren sie im Kampf vor der Höhle gefallen, das mutige Nallimädchen mit ihnen? Waren jene angebrannten Gebeine die ihren?
Er suchte weiter im nahen Wald um die Höhle herum. Blutspuren führten ihn zu einer Föhre, an deren Fuß ihm schon von weitem ein Wolfspelz auffiel. Er eilte hin.
Ein grauenhafter Anblick bot sich ihm. Er sah vor sich die Leiche eines Amiatmannes, von einer Menge von Pfeilen durchbohrt, umgekehrt, den Kopf nach unten, an den Baum gebunden. Es war Obu.
„Wie haben sie dich so binden können, armer Freund?“, rief er zornentbrannt. „Aber du warst tot, ehe sie dir diesen Schimpf angetan, das weiß ich. Und nach dem Tod musstest du den Feiglingen noch als Zielscheibe dienen. So bitter hassten sie dich. Sie hatten wohl Grund dazu.“
Er zerschnitt die Bande und trug die Leiche in die Höhle zu den anderen.
Dann wälzte er Felsstücke und große Steine vor den Eingang der Tulka, trug Baumäste zusammen und verrammelte sie, so gut er vermochte. Kein Bär, keine Hyäne, kein Wolf sollte die teuren Toten berühren. Die Tulka sollte fortan ihr Grab sein.
Hierauf steckte er drei Speere, die er mit aus der Höhle genommen hatte, in einem Dreieck vor dem Eingang in die Erde, ein Zeichen für die Kalats, dass sie sich nicht nahen sollten, dass noch ein Rächer lebe für den braven Tulkastamm.
Dann nahm er ein Tongefäß vom Herd und verließ, den treuen Raben auf der Schulter, den Ort des Schreckens, einst seine glückliche Heimat.
Furchtlos und stolz schritt er den Pfad hinauf; ja, mit Lust hätte er jetzt gekämpft, wären ihm Kalats begegnet. Er schöpfte Wasser an der Quelle und kehrte zurück zur Staffa, um der Ahne Kunde zu bringen.
Was sollen wir weiter sagen von dem einsamen Leben der beiden dort oben in dem Schuhuhorst? Gleichförmig und ruhig flossen ihre Tage dahin. Es war leicht für Rulaman, die wenige Nahrung zu beschaffen, der sie bedurften. Er machte nur kleine Jagdausflüge, um die Ahne nie lange allein zu lassen.
Obwohl die Kalats ahnten, dass noch ein Tulkamann lebte? Ob sie ihn nicht vermisst hatten unter den Toten? So oft er hinüberging zur Tulka, immer standen die drei Speere aufrecht vor der Höhle. Vielleicht mieden die Kalats den unheimlichen Ort, der wohl auch manchen von ihnen das Leben gekostet hatte, denn Obu und Ara und der andere Tulkamann waren sicher nicht ohne furchtbare Gegenwehr gefallen.
Schon nach wenigen Wochen war Rulaman wieder vollkommen erstarkt. Täglich kochte ihm die Alte eine Kraftbrühe, wie sie es nannte, aus Vipern, die sie lebend in strudelndes Wasser warf. Die Vipern musste ihr Rulaman fangen. Es gab damals genug giftige Schlangen auf der Alb, wie noch heute in einzelnen ihrer Täler. Träge, im Halbschlaf, pflegen sie im Sommer stundenlang vor ihren Fels- oder Baumlöchern zu liegen, um sich zu sonnen; den Körper in eine Spirale aufgerollt, den Kopf in der Mitte etwas aufgerichtet, beim geringsten Geräusch ein wenig zuckend, wie um zu horchen und vor Aufregung züngelnd, bereit zum Verderben bringenden Biss. Wo immer Rulaman auf seinen Jagdgängen eine liegen sah, drückte er sie mit seinem Speerschaft nieder. Die Viper schnellte auf und biss wütend in das Holz, dass die gelben Gifttropfen darauf standen. Doch bald war ihre Kraft erschöpft. Dann hielt er ihren Kopf mit dem Schaft auf dem Boden best, fasste sie mit den Fingern am Hals, hart hinter dem Kopf, und warf sie in seinen Köcher. So hatte es ihn die Ahne gelehrt, und nie wurde er gebissen.
Einfacher und mit wunderbarer Ruhe und Sicherheit behandelte die Alte die Schlangen zu Hause. Sie schüttelte sie aus dem Köcher auf den Boden, packte sie rasch an der Schwanzspitze und ließ sie in einen ihrer Töpfe hineinkriechen, deren sie eine Reihe sorgfältig zugedeckt in einer Felsnische stehen hatte.
Die Alte liebte das Viperngericht, dessen Wunderkraft sie jetzt die Wiederherstellung Rulamans zuschrieb. Auch sie selbst schien wieder aufzuleben, ja fast sich zu verjüngen. Das stille Zusammensein mit ihrem Liebling behagte ihr.
War Rulaman auf der Jagd, so spielte sie wie ein Kind mit dem Raben. Mit ihm saß sie gewöhnlich den Tag über oben im Felsspalt, sonnte sich und freute sich, wie der zahme Vogel ab- und zuflog, wie er mutig auf die Raubvögel losstürzte, die in der Nähe vorüber flogen, ja sogar auf die Uhus, wenn sie hin und wieder abends erschienen, um nach ihrem verlorenen Horst zu spähen, noch mehr aber, wenn er durch Krächzen die Ankunft Rulamans verkündigte, wie er es immer tat.
Hatte sie den Schmerz um den Untergang ihres Stammes vergessen, oder waren ihre Gefühle stumpf geworden im Übermaß des Jammers? Oder war sie ruhig, weil alles eingetroffen, wie sie es vorausgesagt, vorher gewusst, und weil sie die Schrecken und den Untergang ihres Volkes schon im Geist durchgekämpft hatte? So schien es. Denn als ihr Rulaman die erste Kunde brachte von all dem Grässlichen, was er vor und in der Tulka gesehen, seufzte sie zwar schwer, forschte aber nicht weiter nach. Auch als er ihr später von der Huhka- und von der Nallihöhle, die er aufgesucht hatte, dasselbe schreckliche Ende schilderte, wie die Kalats auch dort die letzten Aimatreste mit Schwert und Feuer vertilgt, blieb sie scheinbar unbewegt.
Nur ein Gedanke machte sie oft schwermütig: Was aus Rulaman werden sollte nach ihrem Tod. Doch dieser tröstete sie dann liebevoll: „Ich bleibe bei dir bis zu deinem Ende, ich begrabe dich bei den anderen in der Tulka und lebe und sterbe hier als der letzte Aimat.“
Die Alte aber schüttelte den Kopf und meinte: „Das Gesicht, das ich gesehen, wird mich nicht täuschen. So gewiss dich die alte Parre wieder aus dem Tode zum Leben gerufen, so gewiss wird dir widerfahren, was dein Vater Rul und deine Ahne vorhergesagt haben.“
Auch eine große Freude sollte Rulaman in diesen Tagen werden.
An einem Herbstabend spät, als er am Armibach einer Fischotter auflauerte, deren breite, frische Fährte er im weichen Uferschlamm entdeckt hatte, sah er auf einmal einen mächtigen Wolf aus dem nahen Wald heraustreten und etwas weiter oben dem Bach zuschlendern, wohl zur Tränke.
Die Erscheinung war für unseren Aimat so gewohnt, dass er nicht weiter darauf achtete, höchstens fürchtete, der Wolf möchte ihm die Jagd verderben und die Fischotter verscheuchen.
Aber jetzt bemerkte er, dass der Wolf seine eigene Fährte gefunden hatte, jeden seiner Tritte sorgfältig beschnüffelte und immer von Zeit zu Zeit mit erhobenem Kopf windete und äugte.
Das fiel ihm auf, denn ein Wolf allein, wenn ihn nicht der Winterhunger peinigte, flüchtete immer, wo er auf die Spur des Aimat stieß.
Der Wolf war nur noch etwa zwanzig Schritte entfernt. Er erhob den Kopf und stierte den Jäger an.
Auch Rulaman sah ihm scharf in die Augen, um ihn so zur Flucht zu bewegen, damit er ihn nicht weiter störe.
Aber das Tier floh nicht. Es wedelte mit dem Schweif und machte wieder einige Schritte vorwärts nach ihm hin.
Jetzt ging Rulaman dem Wolf mit großen Schritten entgegen.
Der Wolf wich etwas zurück und trat hin und her.
Rulaman blieb stehen. Jetzt kauerte sich der Wolf auf die Erde nieder, wedelte wieder mit dem Schwanz, winselte, reckte Kopf und Hals aus und gähnte Rulaman an.
Nun erst bemerkte dieser, dass das linke Ohr des Tieres zerrissen war, und so war es ja auch bei seinem Stalpe gewesen, dem es der Tulkabär einst bei Spielen zerfetzt hatte. Er lief laut und freudig: „Stalpe! Stalpe!“ und ging auf ihn zu.
Der Wolf blieb ruhig am Boden, seine Augen leuchteten. Er winselte und gilfte beklommen.
Einige Schritte vor ihm machte Rulaman halt. Wieder rief er seinen Namen. Da sprang das Tier auf und mit einem Satz an seinem einstigen Herrn in die Höhe, legte die Pfoten auf seine Schultern, leckte ihm, wie er es gewohnt war, das Gesicht und heulte vor Freude.
Rulaman aber sprach viel zu dem guten Tier, und dieses schien alles wohl zu verstehen. Es begleitete ihn nach Hause, bis unten an seine Höhle, und heulte.
Der treue Stalpe trieb sich fortan immer im Wald in der Nähe der Staffa umher, und wenn Rulaman am Morgen ausging zur Jagd, rief er ihn mit einem scharfen Fingerpfiff; bald kam er dann aus dem Wald angetrottet und geleitete seinen Herrn. Doch blieb der Wolf immer ein Wolf. Was er erbeutete, verzehrte er selbst.