Es war Winter geworden, eine schlimme Zeit für unsere beiden Einsiedler in der Staffa.

Unbehelligt von den Kalats, Alleinherrscher im weiten Umkreis seiner Höhle, hatte Rulaman den ganzen Sommer und Herbst über täglich sein Revier durchstreift und Vögel und anderes kleines Wild, mehr als sie bedurften, nach Hause gebracht. Jetzt aber lag fußtiefer Schnee auf der Erde, die Vögel waren verschwunden, nach wärmeren Gegenden oder nach den größeren Flusstälern gezogen. Nur Wildenten vom Armibach brachte er hie und da nach Hause. Auch die kleinen Säugetiere waren schwierig zu erbeuten. Die Murmeltiere, die damals auf der Alb lebten und die sich jetzt auf die Hochgebirge der Schweiz zurückgezogen haben, schliefen, tief im Boden eingegraben. Die Alpenhasen, die jetzt gleichfalls nur in den Schweizer-Alpen und im hohen Norden von Europa sich finden, hatten ihr weißes Winterkleid angelegt und waren ohne Hund schwer zu entdecken. Großes Wild war weithin um die Tulka herum ausgerottet, auch für den einsamen Jäger schwer zu erlegen und aus der Ferne nach Hause zu schaffen, fast unmöglich.

Tiefe Sehnsucht nach Obu, nach Repo, nach allen seien treuen Jagdgenossen beschlich ihn jetzt beständig auf seinem einsamen Pirschgang. Oft lehnte er sich erschöpft an einen Baum, und die Jagdbilder der vorigen Jahre zogen an seinen Augen vorüber: Die Burriajagd mit seinem Vater, die gelungene Turjagd unter Repo drunten am Norgefluss, die Farkajagd mit Obu und Ara. Alle seine Lieben waren tot! Warum hatte der Tulkamann ihn gerettet aus dem Gemetzel oben auf dem Nufaberg?

Auch die alte Parre verlor wieder allmählich jene Lebensfreudigkeit, die im Sommer über sie gekommen war. Die Arme fror. Die Staffa war nicht tief genug im Berg, um warm zu sein, und sie wagten bei Tag kein Feuer anzumachen, um der Kalats willen. Heimweh ergriff sie, Heimweh nach der guten, heimlichen Tulka, nach dem Geplauder der Weiber und Kinder. Still brütete sie in sich hinein oder starrte die nackten Felswände an. Der Sturm heulte oben durch die Felsspalte und trieb die Schneeflocken bis zu ihr hinunter, dass sie schauerte. Auch der Rabe saß mürrisch und traurig in einer Felsnische und steckte stundenlang den Kopf unter die Flügel. Er zitterte vor Frost und schüttelte oft rauschend sein Gefieder.

Anfangs suchte Rulaman, so traurig ihm selber ums Herz war, die Ahne noch aufzuheitern. Sie musste ihm die alten Geschichten erzählen, die er schon hundertmal von ihr gehört hatte. Aber endlich verfiel auch er einer stillen Schwermut. Ein wahres Glück war es immerhin für ihn, dass er täglich nach Wasser und häufig nach Nahrung ausgehen musste, dass auch die Sorge, von den Kalats entdeckt zu werden, seinen Geist, sein Auge und sein Ohr wach und frisch erhielt.

Seit der erste Schnee gefallen war, musste er fürchten, dass die Feinde durch Verfolgung seiner Spuren die Staffa auffinden möchten. Darum band er sich breite Schneeschuhe unter, die nur flache, unkenntliche Fährten hinterließen, oder er verwischte, wo er mit den Schneeschuhen nicht weiterkommen konnte, seine Fußspuren durch Nachschleppen eines Büschels Tannenreisig. Doch bald vernachlässigte er diese Vorsichtsmaßregeln wieder. Er fand sie unnötig, denn nie und nirgends hatte er bis jetzt Spuren der Kalats im Schnee wahrgenommen.

So war Mittwinter herangekommen und mit ihm bittere Kälte. Stundenlang musste er täglich Holz herbeischleppen. Die Vorräte an gedörrtem Fleisch, die Obu und Ara hereingeschafft und die bis zum Winter sorglich gespart worden, waren fast aufgezehrt. Mit schwerem Bangen blickte Rulaman den kommenden Wochen entgegen.

Da sah er eines Tages die Fußstapfen eines Menschen im Schnee. Es war nicht weit von der Staffa, jenseits des engen mitternächtigen Seitentals unter der Tulka, nahe den spitzen Felsen, die gerade dieser Höhle gegenüber in die Luft ragten. Dort hauste schon damals, dort haust noch heute ein Uhu in schwindelnder Höhe.

Spuren eines Menschen! Schrecken und Freude zugleich für unseren einsamen Jäger. Hart dabei gingen Wolfsspuren, ja, wie er bald ausgemacht hatte, die Fährten zweier Wölfe. Waren sie beutegierig dem einsamen Wanderer nachgeschlichen? War sein Stalpe dabei, der ihn heute nicht erwartet hatte, weil er vielleicht auf eigene Faust jagte?

Was sollte er tun? Sollte er die Spur verfolgen? Ohne Zweifel war es ein Kalat, und wenn dieser ihn sah, war er selbst verloren. Der Kalat würde Kunde bringen nach dem Nufa, und sicher würden sie nach ihm streifen, bis sie sein Versteck gefunden hätten. Aber doch war es ein Mensch, mit dem er wieder sprechen konnte. Was lag auch daran, so dachte er, wenn sein und seiner Ahne elendes Leben gekürzt würde. Und wenn dieser Kalat feindlich ihm gegenübertrat, konnte er ihn nicht töten, hatte er nicht das beste Recht dazu? Er vermochte nicht umzuwenden. Er verfolgte die Spur weiter. Sie leitete ihn hinüber, nach dem Rücken des Felsens zu.

Bald fiel ihm auf, dass eines der Tiere immer neben der Menschenspur herging, nur das andere auf die Spur des Menschen selbst trat. Aber der Wolf wie der Fuchs jagen auf der Fährte ihrer Beute, das wusste er wohl. Jenes konnte also kein Wolf sein. So war es ein Hund – also ein Kalatjäger, von seinem Hund begleitet.

Noch war er einige hundert Schritte vom Felsen entfernt, da vernahm er schmerzliche Hilferufe. Ohne weiteres Besinnen ob Freund oder Feind, eilte er den Berg vollends hinunter in der Richtung, woher die Stimme kam. Ein großer, zotiger Hund kam ihm entgegen gesprungen. Er winselte ihn an, als suche er Hilfe; er jagte eilige voraus, dann wieder zurück und wieder voraus und führte so Rulaman schnell zur Stelle.

Es war freilich ein Kalat! Es war Kando, bleich am Boden liegend.

Unwillkürlich stießen beide einen Schrei der Überraschung aus; oder war es ein Freudenschrei? Dann starrten sie sich verwundert an. Keiner vermochte zu sprechen. Eine Reihe von Bildern und Gedanken jagten in diesen wenigen Augenblicken durch das Gehirn und durch das Herz der beiden Jünglinge: Der gemordete Vater, die gemordeten Brüder; dort der Hilflose, offenbar schwer Verwundete, der nach Hilfe lechzte, hier der Einsame, der seit Monaten keinen anderen Menschen gesehen hatte, als die alte, dem Leben erstorbene Ahne.

Der beweglichere Kalat fand zuerst das Wort. „Lebst du denn noch?“, fragte er ruhig, seine furchtbare Aufregung niederkämpfend. „Haben sie dich nicht verbrannt mit den anderen?“

„Wie kommst du hierher?“, fragte Rulaman dagegen.

„Ich wollte einen Uhu schießen und bin vom Fels gestürzt. Meine Hüfte schmerzt mich, ich glaube mein Fuß ist gebrochen.“

Rulaman kniete neben ihm nieder und versuchte, das Bein zu bewegen. Kando schrie laut auf vor Schmerz.

„Was kann ich tun?“, fragte Rulaman. „Wie soll ich Nachricht bringen nach dem Nufa?“

„Das darfst du nicht“, antwortete Kando entschieden, „der Druide tötet dich.“

„So bringe ich dich in meine Höhle. Du wirst mich und meine arme, alte Ahne nicht verraten.“

Eine Träne der Dankbarkeit und der Liebe glänzte in dem Auge des blassen Kalatjünglings. „Ich werde euch freilich nie verraten“, sagte er bewegt, „aber ich kann nicht von der Stelle.“

„Ich trage dich auf dem Rücken“, versetzte Rulaman und versuchte sofort ihn aufzurichten.

„Mich schaudert“, sagte Kando zitternd, „es war eine schreckliche Nacht.“

„So bist du gestern schon gefallen?“, fragte Rulaman.

„Gestern schon, und ich wäre heute Nacht von einem Wolf gefressen worden ohne meinen guten Hund.“

„Ich sah die Wolfsspur auf deiner Fährte“, sagte Rulaman.

„Der Wolf ist noch in der Nähe“, fuhr Kando fort, „er umkreist uns und wartet nur, bis ich ermatten oder mein Hund mich verlassen würde.“

Rulaman setzte seine Finger an den Mund und tat einen schrillen Pfiff. Bald erschien ein Wolf vom Wald her. Rulaman rief: „Stalpe! Stalpe!“ und ging ihm entgegen. Es war sein Stalpe. Das Tier stieg an ihm hinauf und leckte ihm das Gesicht.

„Du hast meinen Freund fressen wollen“, sagte Rulaman vorwurfsvoll zu ihm, streichelte ihn und ging mit ihm zurück zu Kando.

Doch der Wolf folgte nur einige Schritte, dann blieb er scheu zurück, offenbar um des Hundes willen. Rulaman rief ihm zu: „Ihr müsst Freunde werden, du und der Hund, so gut wie der Aimat und der Kalat!“ Der Wolf wollte nichts davon hören, er zog sich langsam zurück in den Wald.

Staunend hatte Kando diese wunderbare Begegnung mit angesehen.

„Gehorchen dir denn die wilden Tiere des Waldes?“, fragte er.

„Es war ja mein guter Stalpe, den ich jung aufgezogen habe, und der mich oft auf der Jagd begleitet hat“, versetzte Rulaman. „Diesmal wollte er, wie es scheint, allein seine Beute machen.“

„Eine schöne Beute“, sagte Kando bitter.

Rulaman nahm den Verwundeten behutsam auf seinen Rücken. Dieser fasste ihn fest um den Hals. Langsam, nur sachte auftretend, da jede Bewegung des Beines schmerzte, stieg Rulaman den Berg hinunter. Der treue Hund folgte.

Ohne große Anstrengung trug der starke Aimatjüngling seine schwere Last über das enge Tal hinüber, dann am Rand des Tulkaberges vorbei, das Armital hinauf, bis der Zickzackweg durch den Wald zur Tulka hinaufführte, die Stelle, wo die Männer einst, wenn sie von der Jagd wiederkehrten, das Zeichen zu geben gewohnt waren.

So schwer die Bürde, so leicht, ja freudig war ihm ums Herz. Schon war es nicht mehr nur Mitleid, was ihn bewegte. Er hatte wieder einen Menschen gefunden, der jugendlich mit ihm fühlen konnte, und wie leicht versteht sich die Jugend! Die Zuneigung, die er schon beim ersten Begegnen zu Kando gefasst hatte, erwachte wieder. Vielleicht war es ihm auch eine Genugtuung, dem Sohn des stolzen Kalatfürsten das Leben zu retten.

Unten am Berg setzte er seinen Verwundeten nieder. Die Aufregung und der unterdrückte Schmerz hatte Kando so erschöpft, dass er bat, einen Augenblick ruhen zu dürfen. Rulaman breitete seinen weißen Wolfspelz aus, legte ihn darauf, und bald schloss Kando die Augen. Die Angst hatte seine Sinne wach erhalten, nun fühlte er sich sicher und gerettet; Ruhe kam über ihn und mit der Ruhe Schlaf.

Der junge Aimathäuptling betrachtete den Kalat mit stillem Sinnen. Noch einmal ging alles, was seit dem Belenfest zwischen den beiden Völkern geschehen war, an seiner Seele vorüber. Aber nicht mehr Hass war der Grundton seiner Empfindungen, sondern bittere Wehmut, dass alles so hatte kommen, dass die Völker durch das Schicksal hatten Feinde werden müssen.

Es war Abend geworden. Er hatte Kando aus dem erquickenden Schlaf nicht wecken wollen. Jetzt schlug dieser die Augen auf.

„Eilen wir vollends hinauf“, sagte Rulaman, „ehe es dunkel wird. Der Weg ist schlimm in der Nacht, und man tritt unsicher, wenn man schwer trägt.“

Kando blickte matt und krank drein. Er erwiderte kein Wort und gab sich willenlos dem braven Aimatjüngling hin. Dieser lud ihn wieder auf den Rücken und stampfte im Schnee bergan.

Als er von dem breiteren Fußweg links abbog, über den geheimen Pfad am steilen Gebirgshang hinüber, und nun auf der schmalen Rasenkante entlang schritt, da schauerte Kando zusammen; er blickte hinauf an dem schroffen Felsen und hinunter in den jähen Abgrund.

„Wohin bringst du mich?“, flüsterte er bang.

„In unsere Höhle.“

„Ist das der Weg zur Tulka?“

„Nicht zur Tulka; wir wohnen in einer anderen Höhle. Die warme Tulka ist eine Leichengruft geworden. Warst du denn nicht dabei, als deine Leute unsere Weiber und Kinder ausräucherten, wie man Raubtiere ausräuchert?“

„Ich verstehe dich nicht“, entgegnete Kando.

„Ich glaube es dir, aber dein Druide würde mich verstehen.“

„Er ist schuld an allem Unglück“, seufzte Kando.

Sie waren unten an der Staffa angekommen. Es war Nacht geworden.

Rulaman klopfte dreimal am Felsen.

Eine kreischende Stimme antwortete von oben. Der Hund schlug an, als er den sonderbaren Ton aus dem Felsen hörte.

„Hier müssen wir hinauf“, sagte Rulaman. „Doch ich werde zuerst hinaufsteigen, meiner Ahne Kunde zu bringen.“

Er setzte Kando auf den Boden und kletterte hinauf.

„Du bist spät heute“, so empfing ihn die Alte freundlich. „Aber ich habe dir ein warmes Feuer gemacht. Der Sturm bläst kalt vom Nufa her, huhu!“ Sie hielt ihre steifen Finger an die Flamme. „Aber warum heulte denn dein Stalpe so sonderbar?“

„Es war nicht mein Stalpe“, versetzte Rulaman, „es war ein Kalathund, und ich bringe einen Kalat mit, den Sohn des Gulloch. Er ist vom Felsen gestürzt und zum Tode verwundet.“

Wie eine Furie fuhr die Alte auf.

„Bassa, Rulaman!“, reif sie. „Wo hast du ihn vom Felsen heruntergestürzt? Hast’s brav gemacht! Brav! Bring ihn, dass ich sein bleiches Gesicht sehe. Lebt er noch? Willst du mir zeigen, wie er stirbt? Bring ihn herauf. Wir wollen ihn gut wärmen am Feuer, seine Fußsohlen braten, wie man Bärentatzen röstet, dass ihn nicht mehr friert! Ihn langsam räuchern, wie sie unsere armen Weiber und Kinder in der Tulka geräuchert haben. Oder soll ich ihm ein Lager von Giftschlangen machen im Winkel drüben, dem schönen Kalatjungen?“ Sie lachte fürchterlich, alle Wut war in der Alten wieder erwacht.

„Ich bringe ihn nicht zum Morden, Ahne“, erwiderte Rulaman, „ich habe ihn gefunden im Wald mit gebrochenem Beim. Ich habe Mitleid mit ihm gehabt und ihm das Leben gerettet und will ihn pflegen. Ja, nichts Schlimmes soll ihm hier widerfahren, so wahr ich Rulaman heiße und mein Vater Rul“, so schloss er mit entschiedenem, festem Ton.

Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er so der geliebten Urgroßmutter entgegentrat.


Aufstieg zur Staffa

Sie erwiderte kein Wort. Ihre Züge verzogen sich krampfhaft. Dann sah sie ihn wehmütig an, und niedergebeugt sank sie in sich zusammen.

Rulaman tat es Leid um sie. Entschlossen ergriff er ihre Hand: „Ich bin ein Mann geworden, liebe Ahne, lass mir meinen Willen dieses Mal.“ Er kletterte hinunter zu Kando.

„Umklammere mich fest“, sagte er, „und schließe die Augen, dass dir nicht schwindelt. Vertraue mir!“

So stieg er hinauf mit ihm und hinein in die Staffa und legte ihn nah am Feuer auf einem Bärenfell nieder.

Mit Grausen sah Kando sich um. Er starrte die zerklüfteten Felswände an, die schauerlich vom Feuer beleuchtet waren, dann die schreckliche Alte, die ihm gegenüber am Boden kauerte. Sie hatte ihren Kopf tief herabgesenkt auf die Brust. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, die langen weißen Haare fielen wie ein Schleier darüber. Er wagte nicht, den Mund aufzutun, und schloss in stummer Ergebung seine müden Augen. Er vertraute auf Rulaman.

Unten heulte der Hund. Das war gefährlich genug. Sicher streiften die Kalats nach ihrem verlorenen jungen Fürsten weit und breit. Wenn sie nun den Hund hörten, und man hört weit in einer stillen Winternacht!

Was tun? Durfte Rulaman das gute Tier töten? Rasch entschlossen stieg er wieder hinunter, packte den Hund mit kräftiger Faust am Nacken und trug ihn hinauf in die Höhle. Winselnd schmiegte sich der Hund an die Seite seines Herrn und legte seinen treuen Kopf auf dessen schwer atmende Brust. Er stierte unverwandt die Alte an, als müsse er seinen Herrn vor ihr schützen.

Es war still geworden. Bald aber begann Kando laut im Schlaf zu reden. Er erhob seinen Arm und schrie: „Er hat mir das Leben gerettet; du darfst ihn nicht opfern!“ Dann rief er wieder: „Welda, Welda, bring mir Wasser, meine Stirne brennt!“

Rulaman legte seine kalte Hand auf die Stirn des Fieberkranken, streichelte und beruhigte ihn. Treulich wachte er an dem Schmerzenslager des Fürsten seiner Todfeinde die ganze Nacht.