Nur einen Rasttag durften sich die Männer gönnen, denn schon war die magere, gestern heimgebrachte Beute größtenteils wieder aufgezehrt worden. Es folgte am Abend eine Beratung, wohin ein neuer Jagdzug unternommen werden sollte.

Jagdbares Wild war stundenweit ringsherum kaum mehr zu finden. Wohl aber lebten auf der weniger bewohnten Hochfläche der Alb noch einige Renntierherden und kleine, wilde Pferde, während in den dichten Waldungen an den Abhängen schon einzelne Rehe, Hirsche und Wildschweine sich zeigten.

Lange ratschlagten die im Kreis um die alte Parre her lagernden Männer. Sie waren sämtlich Enkel derselben und verehrten sie hoch. Wie alt sie eigentlich war, niemand wusste es, jedenfalls über hundert Jahre. Ihr Reichtum an Lebenserfahrungen, ihre vielen Erzählungen über die Geschichte des Stammes und besonders auch die genaue Kenntnis der schädlichen und nützlichen Pflanzen und Tiere und wie sie bei Krankheiten zu verwerten waren, verschafften ihr ein Ansehen, dass alle wie zu einem höheren Wesen zu ihr aufblickten.

Noch hatte sie kein Wort gesprochen. Man sah nie, ob sie schlief oder zuhörte; in der Tat aber sah sie wie ein Falke und hörte wie ein Luchs: Plötzlich erhob sie etwas ihren gesenkten Kopf und murmelte: „Kadde“; so nannten sie die Renntiere. Damit war die Sache entschieden. Ihr, der Alten, ging Renntierfleisch über alles, und sie hasste die „neuen“ Tiere, wie sie die seit einiger Zeit einwandernden Hirsche und Rehe nannte.

Noch in der Nacht sollte aufgebrochen werden.

Hinter Rul, dem Häuptling und Ältesten der Brüder, stand sein Sohn mit dem Wolf. Dieser trat vor und blickte fragend und bittend den Vater an. „Ja, Rulaman, du kannst mitgehen, aber ohne den Wolf,“ sagte der Vater. Nur halb befriedigt schlich sich der Knabe fort.

Bald nach Sonnenuntergang machten sich die Männer fertig. Der junge Rulaman war der erste, der in Jagdrüstung auf dem Platz vor der Höhle erschien. Voll Stolz trat er vor seine Urahne, die alte Parre, und drückte ihr die magere, knöcherne Hand. Daran erkannte sie sogleich ihren Liebling, blickte auf und lachte ihn freundlich an: „Du kommst nicht leer heim, wie die Alten gestern. Du hast deiner Ahne immer fette Gimpel und gute Haselmäuse heimgebracht, jetzt bringst du mir einmal etwas Großes mit.“

Ein Pfiff des Häuptlings gab das Zeichen zum Aufbruch. Gnädig winkte die Alte mit dem Krückstock zum Abschied, und dann schrie sie noch mit gellender Stimme: „Aber wer von euch wird endlich meinen Sohn rächen und mir den Kopf des Burria bringen!“

Dies war ein den Männern wohlbekanntes Wort. So oft sie zu einem Jagdzug aufbrachen, rief sie es ihnen nach. Ein Höhlenlöwe, von den Aimats Burria genannt, hatte nämlich ihren Sohn, den Vater der sechs Tulkamänner, im kräftigsten Mannesalter in einem Wald von der Spitze seiner Männer weggeholt und in seine Höhle geschleppt. Das war der Kummer der Alten schon seit dreißig Jahren.

Ohne ein Wort zu erwidern, brach die kleine Schar auf. Voran Rul, dann Rulaman, dann die fünf anderen Männer und endlich noch die zwei jungen Burschen, die bei dem Tanz vor der Höhle mit Trommel und Pfeife den Takt angegeben hatten.

Jeder der Männer war mit Bogen und Pfeilen, Speer und Steinbeil bewaffnet. Die Speere waren mannslange, zolldicke, hübsch gerundete rot bemalte Stangen aus Hainbuchen, mit beinerner Spitze aus Renntiergeweih. Die Pfeile waren starke Haselnussgerten, die meisten mit Feuerstein-, einige auch mit Beinspitzen. Die Speere dienten zunächst als Lanzen, konnten aber auch als Wurfspieße und wie Alpenstöcke zum Springen über Gebirgsbäche und kleine Schluchten in den weglosen Bergen der damaligen zeit gebraucht werden.

Der Speer Ruls war mit besonderer Sorgfalt gearbeitet. Die Beinspitze war sehr lang und der rot bemalte Schaft mit schwarzen Einschnitten verziert. Dieselbe Ausschmückung zeigte der Stiel seines Steinbeils. Als Häuptling trug er den seltenen weißen Wolfspelz. Einen solchen hatte auch Rulaman als Häuptlingssohn, und auch sein Steinbeil war dem des Vaters ähnlich gearbeitet.

Alle trugen Sandalen aus Tierfell, die sie mit Riemen festbanden, teils zum Schutz für den Fuß, wegen der Steine, Disteln und Dornen, noch mehr vielleicht, um keine deutlichen Fußspuren für Feinde und Raubtiere zu hinterlassen. Überdies hingen über ihre Schultern Seile und Schnüre aus Waldreben und Weiden und eine Anzahl breiter und schmaler Riemen aus Tierfellen.

Auch die beiden Burschen führten Steinaxt, Bogen und Pfeile, doch fehlte ihnen der Speer, das Zeichen der Manneswürde, den der Jüngling nach strenger Sitte erst nach Erlegung eines Höhlenbären erhielt. Beide hatten überdies schwere, lederne Säcke mit Feuersteinmessern und anderen Gerätschaften gefüllt über den Rücken hängen.

Still ging es durch die dunkle Nacht, immer nach Süden, zunächst den schmalen Pfad aufwärts ins Gebirge. Als sie aus dem Wald heraustraten, wurde zuerst die Windrichtung untersucht, indem Rul, wie unsere Jäger heute noch tun, den Finger in den Mund steckte und in die Luft heilt. Der Wind war gut, er kam gerade von Süden, wo sie die Renntiere vermuteten.

Stundenlang wanderten sie, immer einer in die Fußstapfen des anderen tretend, – wie manche Raubtiere tun, wenn sie zusammen auf Beute ausgehen – über den kurzen, festen Albrasen und über Heidegründe auf der öden Fläche dahin.

Hier gab es keine Pfade mehr wie im Wald; man suchte und fand die Richtung nach wohlbekannten Zeichen, nach hervorragenden alten Bäumen, nach Felsen, Gebüschen und Waldecken. Jede natürliche, auf dem Weg sich darbietende Deckung wurde benützt. Besonders wichtig schienen für sie die großen Haselnuss- und Wacholdergebüsche, die da und dort die eintönige Ebene unterbrachen. Wo diese sich in der mondlosen, aber sternhellen Nacht in der Nähe blicken ließen, schritt Rul darauf zu und lugte und horchte, ehe er weiterging. Aber nur mit Vorsicht nahte er solchen Gesträuchen, denn in ihnen lauerten oft der Höhlenbär und der damalige König der deutschen Tierwelt, der mächtige Höhlenlöwe. Sie überfielen von diesem Versteck aus die in der Abend- und Morgendämmerung ruhig einher weidenden Renntiere und Pferde.

So wechselten beständig Hoffnung auf ein Jagdtier, Furcht vor Überfall von Raubtieren und von feindlichen Stämmen in den Herzen dieser Naturmenschen.

Noch immer war es totenstill, kein lebendes Wesen rührte sich, bis plötzlich aus einem großen Wacholderbusch ein mächtiger, schwarzer Vogel hervorrauschte.

„Kobelo, Kobelo!“, schrie Rulaman mit heller Stimme, und schon hatte er den Bogen von der Schulter und den befiederten Pfeil darauf. Einige Schritte rannte er dem Vogel nach, man hörte noch das Schwirren der Bogensehen, dann einen dumpfen, schweren Fall.

Mit lautem Jubelgeschrei schleppte der Junge den schweren, sich sträubenden und flatternden Vogel an einem Flügel daher. Es war ein prächtiger Auerhahn, dem die knöcherne Pfeilspitze mitten durch den Körper gedrungen war.

Aber ernst kehrte sich der Vater zum Knaben: „Nie schießen ohne mein Gebot und nie rufen auf der Jagd.“ Dann nahm er ein Feuersteinmesser und schnitt dem Vogel den Hals ab. „Trink!“, sagte er. Gierig schlürfte Rulaman, durstig und hungrig wie er war, das strömende warme Blut. Dann band einer der jungen Burschen dem Auerhahn die Füße zusammen und warf ihn über seine Schulter.

Der Tadel Ruls war nur zu begründet gewesen, das zeigte sich in diesem Augenblick; denn kaum waren sie etwas weitergegangen, so hörte man rechts in nicht zu großer Entfernung ein dumpfes Stampfen und dazwischen ein höchst eigentümliches Knattern. Im Nu lagen alle Männer auf dem Boden und spähten nach der Richtung, aus der sie das Getöse vernommen hatten. „Kadde,“ flüsterten sie und sahen jetzt deutlich einen großen, dunklen Fleck auf der Ebene, der sich in rasender Geschwindigkeit von ihnen fort bewegte. Es war eine kleine Herde Renntiere, die die Jäger sofort an dem merkwürdigen Knattern erkannten, das die Fußgelenke dieser Tiere bei jeder Bewegung hören ließen, und das sich bei keinem anderen Hirsch, überhaupt bei keinem anderen Tier fand.

„Auf!“, rief Rul, „es ist zu spät. Rulaman, du hast uns die Jagd verdorben,“ sagte er strafend zu seinem Sohn.

Bereits dämmerte der Tag, kein Renntier, kein Pferd wollte sich mehr zeigen. Schon sah man in der Ferne einen hohen Tannenforst. Dort war, wie sie wohl wussten, die Grenze des Renntierfeldes.

Am Rande des Forstes machte Rul Halt und stieß seinen Wurfspieß in die Erde. Dies war das Zeichen zum Lagern. Sofort warfen die beiden Burschen alles, was sie trugen, auf den Boden und verschwanden im Wald.

Bald kam jeder mit einem Armvoll dürren Holzes zurück. Sie schichteten es zu kleinen Haufen. Dann bohrte einer der Männer mit einem Feuersteinmesser ein enges Loch in einen alten Baumstrunk, drehte darin einen Holzpfahl mit sausender Schnelligkeit, wie sie nur häufige Übung geben kann, bis durch die Reibung zuerst etwas Rauch, dann eine kleine Flamme entstand. Er zündete vermittelst eines trockenen Pilzzunders an, und lustig flackerte bald der Holzstoß.


Feuererzeugung der Aimats

Indessen hatte ein anderer Mann den Auerhahn gerupft und einen Holzspieß durchgesteckt. An jedem Ende ergriff nun diesen einer der Burschen, und so hielten und drehten sie den Vogel über dem Feuer. Schon nach einer Viertelstunde war er geröstet und zum Essen fertig. Dann wurde er mit einem Feuersteinmesser zerlegt und Rul das erste, Rulaman das zweite Stück zugeteilt.

Doch nicht lange dauerte die Rast. Schon umsäumte das Rot des Morgens den Rand der Ebene. Für Renntiere und Pferde war jetzt die günstigste Zeit, die Zeit der Dunkelheit, vorüber. Denn ohne Hund und zahmes Pferd und ohne weittragende Geschosse konnte der Mensch bei Tag das Tier der Ebene nicht jagen. Nicht anders als der Löwe und der Bär, seine Mitbewerber im Jagdhandwerk, musste auch er sich in der Dämmerung oder bei Nacht an die ruhig weidenden Tiere heranschleichen oder sie aus einem Hinterhalt, einem Busch oder Felsen, überfallen oder abends an den Tränkplätzen, die er ausgekundschaftet, ihnen auflauern.

So konnte es sich also bis zur nächsten Nacht nur noch um eine Jagd aufs Geratewohl im Wald handeln. Wieder ertönte als Zeichen zum Aufbruch der wohlbekannte Pfiff des Häuptlings mit der Knochenpfeife, und hinein ging es in den noch immer dunklen Wald. Sicher und ohne Zaudern schritt Rul voran, denn er kannte auch diese Pfade meilenweit von seiner Heimat so gut wie die bei der Tulka.

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