Künstlerpaar VestAndPage kehrt zum Abschluss seines poetisch-philosophischen Films „Strata“ mit internationalen Gästen nach der Schiller- und Wimsener in die Falkensteiner Höhle zurück.

Die erste Viertelstunde geht dafür drauf, dass sich Verena Stenke (39) und die anderen Künstler in dicke, vom Touranbieter Cojote Outdoor bereitgestellte Neoprenanzüge zwängen. Dazu verteilt die Bad Uracher Cojote-Chefin Conny Krauß (50) Neoprensocken und Helme mit batteriebetriebenen Lampen dran. Verena Stenkes Mann Andrea Pagnes (58) schmiert sich davor noch weißes Zeug auf die nackte Haut. Das soll aber nicht das Anziehen geschmeidiger gestalten, sondern ist Körperschminke für seinen Auftritt im Kunstfilm „Strata“.

New York, Antarktis, Kashmir, Alb

Um für das rund 90-minütige Filmessay die letzten Szenen zu drehen, macht sich das Paar, das seit 2006 unter dem Künstlernamen VestAndPage Ausstellungen und Performance-Filme zwischen New York, der Antarktis und Kashmir realisiert hat, mit vier Kollegen und Cojote-Mitbegründer Jochen „Joe“ Hintz (50) vom Wanderparkplatz zwischen Bad Urach und Grabenstetten auf den Weg zur Falkensteiner Höhle. Nach Besuchen in anderen urgeschichtlich bedeutsamen Höhlen der Schwäbischen Alb – Hohler Fels bei Schelkingen, Blautopf in Blaubeuren und in der Grabenstetter Gustav-Jakob-Höhle – tauchte das „Strata“-Team nun noch dreimal ab in der „Falki“, wie sie Verena Stenke nennt.
In der einzigen wasserführenden Höhle Deutschlands, die auch im Sommer begehbar ist, hatten die 1981 in Bad Friedrichshall geborene Performancekünstlerin und Filmemacherin und ihr 1962 geborener Partner Mitte April ihr aktuelles Projekt begonnen.

Geruchlose Luft im Inneren

Damals waren die Temperaturen im Freien deutlich niedriger und um die Höhle herum standen noch ein paar mehr, damals laubfreie Bäume. Die haben Gewitterstürme gefällt. Der Starkregen hat jüngst nicht nur den nahen Elsachbröller zum Sprudeln gebracht, auch der Wasserstand des Bachs in der Höhle ist 30 Zentimeter höher als gewöhnlich. Ob der Pegel des von Stalagmiten und -titen sowie kunstvollen Sinterformen und in Stein eingeschlossenen Muscheln umgebenen Gewässers noch weiter steigt, hat Joe vorab via Wetter-App abgeklärt. Tue er nicht, beruhigt der Mann, der die Höhle erstmals als Zehnjähriger erkundet hatte und seither wohl an die 1500 Mal drin war. Trotzdem kommen auf der ersten Schwimmstrecke durch einen nur etwa 70 Zentimeter hohen Siphon Gedanken an Unfälle hoch: Fast genau zwei Jahre ist es her, dass zwei Männer nach starken Regenfällen eine Nacht lang in der gefluteten Höhle festsaßen. An den letzten drei Drehtagen des „Strata“-Teams ist die Strömung stark. Von der Decke rieselt beständig sieben Grad kaltes Wasser in die klare, geruchslose das ganze Jahr hindurch zehn Grad kühle Luft.

Die Höhle als lebendiger Organismus

Die griechische Tänzerin Fenia Kotsopoulou aber hat keine Angst, als sie sich 40 Minuten später, rund 250 Meter hinter dem hallenartigen Höhleneingang, an der Felsformation „Weißer Riese“ vor Stenke und dem britischen Lichtdesigner Daz Disley, die sie mit Filmkameras umkreisen, aus dem Stein hervorzuwinden scheint. Disley und Stenkes Produktionsassistent Marcel Sparmann aus Weimar haben den unterirdischen Drehort effektvoll mit mitgebrachten Lampen und Stativen ausgeleuchtet. „Die Höhle ist ein lebender Organismus“, sagt Fenia. Gefährlich werde sie nur für jene, die sie nicht respektieren, arrogant sind.
Obwohl sie für die Szene gefühlt zehn Minuten lang mit nacktem Oberkörper, von der Hüfte abwärts für Trickeffekte in grünen Stoff gehüllt, tanzt, ist ihr nicht kalt. Dafür sei sie zu konzentriert, sagt die zierliche, langhaarige Frau, deren Brille Joe auf einem Felsvorsprung in Sicherheit bringt. Nicht jede ihrer Bewegungen ist geplant, die Hälfte etwa improvisiert. Je nach Substanz der Materie, eckig oder abgerundet, so schweifen auch ihre Arme mal weich, mal zackig darüber. „Der Fels trägt Erinnerungen in sich“, sagt sie. „Er ist ein Zeugnis der Zeit.“

Ziel ist, Geschichten freizulegen

So etwa lässt sich auch die Idee hinter „Strata“ umreißen. „Wir gehen nicht an einen Ort, um eine Geschichte zu erzählen. Wir gehen an einen Ort, um die Geschichte zu finden“, heißt es an einer Stelle des Films. Die Kamera lenkt den Blick dazu aus der Höhle hinaus an einer Rückenfigur vorbei ins grelle Tageslicht.
Um in den uralten Albhöhlen den Schichten menschlichen wie geologischen Erinnerns nachzuspüren, hat das Künstlerpaar dort in den vergangenen drei Monaten mit mehr als 30 internationalen Kollegen und Forschern Ton- und Bild-Material aufgenommen: im Juni im Lone-, Ach- und Lautertal mit dem im Rollstuhl sitzenden Nicola Fornoni und Nathalie Anguezomo Mba Bikoro.

Kunst als Heilmittel und Quelle von Freiheit

„Kraftvolle Arbeiten über das Menschsein“ hätten die im Hohlenstein-Stadel und in der Wimsener Höhle kreiert, berichtet Stenke. Der Italiener, der seit 20 Jahren mit der Autoimmunerkrankung Sklerodermie lebt, beschäftige sich mit sozialen Fragen der Akzeptanz und Inklusion. Er nutze Performancekunst als natürliches Heilmittel und Quelle der Freiheit. Für „Strata“ schuf er metaphorische Bilder mit Fantasiewesen, inspiriert von prähistorischen Darstellungen – der Löwenmensch lässt grüßen. Die Künstlerin aus Gabun analysiere etwa mit Klang „Prozesse der Macht und Fiktionen in historischen Archiven, die sich kritisch mit Migrationskämpfen auseinandersetzen“.
Kraftvoll“ fand es die 39-jährige Filmemacherin auch, die Sommersonnwende von 20. auf 21. Juni nachts mit Stimmkünstler Ralf Peters in der Sirgensteiner Höhle bei Blaubeuren zu verbringen. Nahebei, in der Brillenhöhle, arbeitete das „Strata“-Team mit Documenta-8-Künstler Boris Niesolny.
Darauf folgten Interviews etwa mit Archäologe Nicholas Conard von der Uni Tübingen, dem Entdecker der „Venus vom Hohle Fels“, und Guido Bataille, Welterbe-Fachmann beim Landesamt für Denkmalpflege.

Spiralenspiele in der Wittlinger Schillerhöhle

Der wie Andrea Pagnes aus Venedig stammenden Künstlerin Giorgia De Santi geht es um die Komplexität von Körpern und Identitäten bis hin zum Zwischengeschlechtlichen. Dazu hat sie vorletzte Woche im Lehmsee der Wittlinger Schillerhöhle performativ mit der Spiralenform als Symbol des Werdens gespielt: Wie der Ammonit in ihrer ausgestreckten Hand, so zog sich ein acht Meter breiter Rock mit jeder Drehung schneckenförmig um ihre Beine. „Als queerer Körper wollte ich mich mit der Vorstellung vom Menschen als Ausdruck der geologischen Kräfte der Erde auseinanderzusetzen“ – fernab vom Anthropozän-Diskurs.

Mit einem heißen Tee zurück ins Hier und Jetzt

Mit feinem Kalkschlamm überzogen sind nach einer weiteren Szene, in der Pagnes eine Art animistischen „Schellenkönig“ mimt, auch die Künstler. Gut gekühlt schälen sie sich nach drei Stunden unter Tage wieder aus den Neoprenanzügen. Ihre Sinne scheinen frisch kalibriert: Licht, Gerüche, Geräusche und die Wärme im Freien nehmen sie ganz neu wahr. „Das geht auch mir noch so“, sagt Höhlenführer Joe, für den VestAndPage nach anfänglichem Kopfschütteln über deren ästhetisch wie intellektuell höchst anspruchsvolles Projekt in den vergangenen Wochen Freunde wurden. Am Eingang zur „Falki“ holt die italienische Tänzerin Sara Simeoni alle sechs mit einer Tasse heißen Ingwertee wieder ins Hier und Jetzt zurück.

„Keine Kunst ohne Cojote“

Der Künstler Andrea Pagnes von VestAndPage lobt: „Keine Kunst ohne Cojote.“ Der Bad Uracher Touranbieter „Cojote Outdoor“ habe die Arbeit fürs Projekt „Strata“ in den Höhlen der Uracher Alb erst möglich gemacht. Hinter Cojote Outdoor stehen Constanze „Conny“ Krauß und Jochen „Joe“ Hintz: Die Musiktherapeutin und der Rettungsassistent hatten sich 2013 mit Höhlen- und Abenteuertouren, Erlebnispädagogik und Teambuilding-Events zwischen Schwäbischer Alb und Stuttgart selbstständig gemacht.
Der Name setzt sich aus den ersten Buchstaben der Vornamen der beiden Inhaber zusammen: Co und Jo, gefolgt von „te“, den beiden Anfangsbuchstaben von Team, wie die beiden auf ihrer Website https://cojote-outdoor.de/ erklären. Denn unterstützt werden Constanze Krauß und Jochen Hintz von einem etwa zehnköpfigen Team von Tourguides.
Joe weist das Lob der VestAndPage-Künstler vom Projekt „Strata“ übrigens bescheiden zurück: „Die könnten das inzwischen auch ohne uns.“
Neues zu „Strata“ gibt es unter https://www.vest-and-page.de/
Danke Claudia Reicherter von der Südwestpresse für die tolle Zusammenarbeit.