Wenn ein bengalischer Tiger in Ostindien seinen Wohnort in der Nähe eines Dorfes aufschlägt, so kommt es gar nicht selten vor, dass die Bewohner, nachdem ein Familienglied nach dem anderen von ihm weggeholt worden, in ihrer Verzweiflung Haus und Hof verlassen und sich anderswo ansiedeln. Und doch haben diese Leute, wenn nicht Schießgewehre, so doch treffliche Metallwaffen genug.

In neuerer Zeit wenden sich in solchen Fällen die Inder häufig an die englischen Offiziere, bei denen eine Tigerjagd als das Ideal des „sportsman“, des Jägers gilt und deren höchster Stolz es ist, das Fell eines selbst erlegten Radja-Utangs, wie ihn die Malaien heißen, mit nach England zu bringen und ihr Arbeitszimmer damit zu schmücken. Zu dieser Erlegung bedarf und benutzt der Jäger die vollkommensten Schusswaffen, zwei, drei der besten Doppelbüchsen mit Stahlkugeln; und für den Notfall ist er immer gedeckt durch ebenso gut bewaffnete Freunde oder Diener.

Nun denke man sich dagegen erst die Freude und den Stolz jener braven, tapferen, aber fast hilflosen Ureuropäer, wenn es ihnen einmal gelungen war, mit ihren fast kindlichen Pfeilen aus Haselnussgerten und den einfachen Wurfspießen einen Höhlenlöwen, das Ungetüm ihrer Wälder, das seit einem halben Jahrhundert die ganze Gegend tageweit unsicher gemacht hatte, zu erlegen. Das war ein Ereignis für jene Menschen und für die ganze Nachbarschaft, von dem noch Kind und Kindeskind erzählte. Daher wurde auch jedes Mal ein großes Fest veranstaltet, an dem ich nicht nur die Männer, sondern auch Frauen und Kinder beteiligten.

Mit Tagesanbruch erschien schon das ganze Volk auf dem freien Platz vor der Tulka und harrte begierig der Dinge, die da kommen sollten. Auch von der Huhkahöhle stellte sich der versprochene Zuzug von zwanzig Männern, Frauen und Kindern ein. Von allen Anwesenden hatte niemand ein Burriafest mitgemacht als die alte Parre. Man legte daher die ganze Anordnung der Sache in ihre Hand.

Zuerst wurde ein Gestell aus Holz gebaut. An einer zehn Fuß langen Stange, die den Rücken vorstellte, wurden vier Pfosten als Beine befestigt, dann die schöne Haut des Burria über dieses Gestell geworfen und notdürftig mit Baumzweigen und Laub ausgestopft. So stand der Löwe in furchtbarer Majestät vor der Tulka. Mit Grausen sahen die Kinde rund Frauen an dem fürchterlichen Tier hinauf, mit Wut und Hohn die alte Parre. Zu ihr hin hatte man den Kopf des Tieres gerichtet.


Das Burriafest

Der Tanz, wenn wir das oft unschöne, wilde Springen der Naturvölker so nennen dürfen, begann, begleitet von Trommel und Pfeife und dem eintönigen, melancholischen Gesang der Weiber. Zuerst kamen die Männer, mit ihren besten Kleidern und Waffen angetan, voran Repo als Burriamate, das heißt Burriabesieger. Diesen stolzen Namen durfte er fortan führen. Die Steinbeile in der rechten Hand in der Luft schwingend, sprangen sie, einer hinter dem anderen, in kurzen Sätzen mit hoch gehobenen Knien stampfend, in weitem Kreis um das Tier herum, und jeder, wenn er an dem Kopf vorbei kam, gab ihm einen sausenden Hieb, der die ganze Gestalt erzittern machte. Das dauerte eine Viertelstunde, dann kam die Reihe an die Weiber.

Sie waren festlich bekleidet mit weißen Mänteln, die aus Schwanenpelzen zusammengenäht waren, Hals und Arme reich mit Ketten von Tierzähnen behangen. Zuerst bildeten sie einen Kreis, indem sei sich bei den Händen fassten; dann hüpften und sprangen sie mit tollem Geschrei um den Löwen herum. Jede fasste einen langen Tannenzweig und nun sangen sie das Burrialied, wie es ihnen die alte Parre angab, indem sie am Ende jeder Zeile bei dem Ruf „Burria“ dem grimmigen Menschenmörder einen derben Rutenstreich versetzten:

Wie viel hast du Männer getötet, o Burria!
Heldenmänner im grauen Wolfsfell, o Burria!
Hast sie zerfleischt mit den Feuersteinzähnen, o Burria!
Hast mit Lust ihr Blut getrunken, o Burria!
Hast mit der dornigen Zunge ihr Fleisch geleckt, o Burria!
Wie viel arme Weiber hast du gemordet, o Burria!
Schwache, Wurzeln suchende Weiber, o Burria!
Schande über dich, wie ein schleichender Wolf, o Burria!
Du, der starke Riese, der mächtige Burria!
Wie viel Kinder hast du verschlungen, o Burria!
Hüpfende, Blumen pflückende Kinder, o Burria!
Schande über dich und deine Mutter, o Burria!
Aber der Pfeil des Helden traf dich ins Herz, o Burria!
Hast dich lang’ wohl gewälzt in Todesschmerzen, o Burria!
Jetzt muss hängen dein Schädel am kahlen Ast, o Burria!
Schmählich baumeln neben dem Fuchs, o Burria!
Und es brennt dir die Sonne den kahlen Scheitel, o Burria!
Und es regnet dir auf den breiten Kopf, o Burria!
Und es schneit dir auf die schwarze Schnauze, o Burria!
Und es werfen Steine nach dir die Knaben, o Burria!
Dir in den aufgesperrten Rachen, o Burria!
Schande, Schande, dir und deiner Mutter, o Burria!

Der zweite Teil des Spiels begann.

Eine Art Galgen wurde gebaut aus drei hohen Stangen, die man oben mit Waldreben zusammenband und unten wie ein Zeltgerüst im Dreieck auseinander spreizte. Ein langes Seil wurde um den Hals des Burria gebunden, über die Spitze des Galgens geworfen und das Tier von den Männern hinaufgezogen, dann das Seil plötzlich nachgelassen, so dass der ausgestopfte Löwe dröhnend herunterstürzte. Dies wurde wohl ein Dutzend Mal unter großem Jubel wiederholt.

Dann setzte sich alles zum Schmaus nieder, für den ein ganzes Bärenviertel geröstet wurde. Den Hauptleckerbissen bildeten dabei die Markknochen. Zu dem Mark gelangten sie auf sehr einfache Weise. Sie hielten den Knochen über das Feuer, um das Mark innen flüssig zu machen, dann schlugen sie die beiden Enden des Knochens mit einem Stein ab und saugten das Mark mit schmatzendem Wohlbehagen heraus.

Jetzt kam der dritte Teil.

Während des Schmauses hatten zwei Männer den Burria in die Höhle hineingeschleppt und nachdem sie das Holzgerippe aus dem Pelz entfernt, schlüpften sie selbst hinein, einer hinter dem anderen, und ließen sich das Fell notdürftig zunähen.

So sprang plötzlich unter fürchterlichem Gebrüll der Burria aus der Höhle erhaus, mitten unter die Schmausenden. Alles stob auseinander, besonders die Kinder, die den Burria leibhaftig wiedererstanden unter sich glaubten. Auch der kleine, zahme Bär rannte angstvoll brüllend davon, und der Rabe und die Dohle flogen krächzend auf die Bäume. Es begann eine wilde Jagd. Die Weiber flohen, die Männer stürzten mit den Waffen auf den Burria los; es war ein höllisches Getümmel.

Da sprang mit einem ungeheuern Satz der junge Rulaman auf den Burria hinauf. Das Ungetüm schüttelte sich, wälzte sich auch auf dem Boden herum, aber Rulaman hielt fest, indem er den Hals umklammerte, bis der Burria erwürgt zu Boden stürzte. Nun näherte sich allmählich alles wieder, lachte und hüpfte und jubelte. Noch einmal erhob sich der Reise aus seiner Ohnmacht und raste, von den Männern verfolgt, immer den kühnen Reiter auf dem Rücken, zurück in die Höhle, aus der noch lange Gebrüll und Geschrei hervortönte.

Allmählich kehrte die Ruhe zurück, und der Schmaus wurde fortgesetzt.

Jetzt folgte der vierte Teil.

Unter Angstgebrüll stürzte der kolossale Bär, den man gestern erlegt hatte, aus der Höhle hervor, hinter ihm her der Burria. Es begann ein fürchterlicher Kampf, bis beide ermattet und leblos am Boden lagen. Unter allgemeinem Lachen krochen die Männer aus den Bälgen heraus. Damit waren die Spiele zu Ende.

Nun folgte eine feierliche Szene. Der junge Held Rulaman, der seinem Vater das Leben gerettet hatte, sollte nach dem Beschluss der Männer jetzt schon den Speer, das Zeichen des Mannes, erhalten, der sonst erst dem Jüngling, nachdem er einen Bären erlegt, zuteil wurde.

Festlich geschmückt, im weißen Wolfspelz, mit Bogen und Steinaxt bewaffnet, trat er, von Repo, dem Burriamate, geführt, aus der Höhle.

Es wurde ein großer Kreis geschlossen mit der alten Parre unter ihrer Eibe, zu ihrer Rechten Rul, der Vater. Schüchtern trat der Junge in den Kreis vor die alte Parre hin, die einen rot und schwarz bemalten Speer, wie ihn sonst nur Häuptlinge trugen, in der Hand hielt. Vor ihr stand ein junges Mädchen mit einem Kranz aus Hainbuchenlaub, dem Baum, aus welchem die Speere gefertigt wurden. Die Alte murmelte einige feierliche Worte, dann kniete Rulaman vor ihr nieder und empfing aus ihrer Hand den Speer, worauf ihm das Mädchen den grünen Kranz aufsetzte. Er erhob sich und fiel seinem Vater, Freudentränen im Auge, in die Arme. Jetzt traten die Männer auf ihn zu, schüttelten ihm einer nach dem anderen die Hand, und als Zeichen seiner neuen Würde tanzten sie mit ihm den Speertanz, den nur Männer tanzen durften.

Dann ergriff Rul ein Steinmesser und schnitt dem Burria den Kopf ab, schlug die prächtigen, beinahe halbfußlangen Eckzähne aus dem Schädel und übergab sie Repo, dem Burriamate.

Repo aber sprach: „Nicht also; ich nehme einen. Der andere gebührt dem braven Rulaman“, und reichte ihm ihn. Dann wurden die fingerlangen Krallen ausgelöst und unter die Männer, die an der Jagd teilgenommen hatten, verteilt. Die Krallen hatten großen Wert, denn man glaubte, dass ein Mann, der eine solche Klaue am Hals trug, von keinem anderen Tier, Bär, Wolf, Luchs oder dergleichen, besiegt würde.

Der Pelz, auf dem Platz unter der Eibe ausgebreitet, sollte fortan als Sitz für die alte Parre dienen. Der Löwenkopf selbst wurde hoch an der Eiche als Siegestrophäe und Zielscheibe für die Pfeile, Wurfspieße und Schleudern der Knaben aufgehängt, und bis in die Nacht hinein übten sich die Jungen an diesem lustigen Spiel.

Dies war das Burriafest vor der Tulka. Es war das letzte. Das Schicksal dieses tapferen Völkleins sollte sich bald erfüllen. Schon war ein anderes Geschlecht im Land, neben dem es nicht bestehen konnte.

Nach Jahr und Tag stand die Höhle traurig und verlassen, ein Zufluchtsort für Bären und Hyänen, bis auch sie verschwanden.

Jetzt liegt die Höhle düster und einsam in einem forstlich wohl gepflegten Buchenwald. Der schöne freie Platz vor ihr, auf dem sich einst das ganze Leben eines Menschenstammes bewegte, ist zum großen Teil in den Abgrund hinuntergestürzt. Von der einsam stehen gebliebenen rechten Ecke blicken friedliche Reisende hinunter in die grünen Auen des Armitales und auf den hohen Schornstein einer Fabrik. Gegenüber aber knallt die Peitsche des Albbauern auf der Steige, der den mit Albkorn reichlich beladenen Wagen zu Markt ins Tal führt.

Noch tönt von den schroffen Felswänden herab, wie eine Stimme aus längst vergangenen Tagen, an Frühsommerabenden der melancholische Ruf des einsamen Uhus, derselbe Ruf, der schon vor Jahrtausenden, auch während jenes Burriafestes, erklungen war.

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